Die Schrippenkirche im Wedding

Ende des 19. Jahrhunderts zogen Zehntausende verarmte Menschen vom Land in die sich gerade entwickelnde Industriemetropole Berlin. Hier erhofften sie sich eine gute Arbeit und eine Unterkunft. Doch die Stadt war diesem massiven Zustrom von Menschen nicht gewachsen; Tausende lebten obdachlos, hungrig und ohne Perspektive in den Straßen. Aus dieser Not heraus entstand die Idee, den Armen eine Mahlzeit zu bieten und dann mit ihnen eine gemeinsame Andacht zu begehen. Diese Armenspeisung wurde seitdem nicht mehr aufgegeben, es gibt sie auch über hundert Jahre später.
Begonnen hatte es 1882, als der Journalist Constantin Liebich an einem Treffen der „Deutschen Jünglingsvereine“ im Teutoburger Wald teilnahm. Liebich war Mitglied der Evangelischen Versöhnungsgemeinde, die in der Bernauer Straße 4 angesiedelt war. Gleichzeitig war er im „Älteren Evangelischen Jünglingsverein“ aktiv, unter dem Vorsitz des Antisemiten Adolf Stöcker. Die Rede eines amerikanischen Evangelisten hatte Liebich so beeindruckt, dass er im Oktober 1882 in einem Vortrag zur „aktiven, christlichen Liebestätigkeit“, in erster Linie für Obdachlose, aufrief. Mit geringen Mitteln und viel Enthusiasmus wurden zunächst in der Oranienstraße Morgenandachten mit Frühstück für Obdachlose organisiert und dabei auch die Stöcker‘schen Predigten verteilt. Jeder erhielt eine Tasse Kaffee und zwei Schrippen: Der Name „Schrippenkirche“ machte die Runde. Bald wurde ein neues Vereinslokal notwendig. Es fand sich in dem Tanzlokal „Fürst Blücher“ am Weddingplatz, Müllerstraße 6. Dieses Haus war von der Nazareth-Gemeinde aufgekauft worden, um es zu einem christlichen Vereinshaus umzubauen. In den Folgejahren hatte die Schrippenkirche dort ihr Domizil.
Ebenfalls 1882 gründete Liebich mit sechs christlichen Handwerkern den Verein „Dienst am Arbeitslosen“. Geld hatte der Verein kaum, doch Spendenmittel und freiwillige Helfer ermöglichten es, die Obdachlosen in den Wintermonaten regelmäßig einzuladen. Die Prediger für diese Gottesdienste suchte sich Liebich in den umliegenden Gemeinden, wie auch den bekannten Pastor von Bodelschwingh. Mit der finanzkräftigen Unterstützung eines Vereinsmitglieds konnte das Grundstück Ackerstraße 51/52 und Hussitenstraße 71 erworben werden. 1902, ein Jahr nach der Grundsteinlegung, war das Vereinshaus fertiggestellt. Darin versammelten sich bald bis zu 600 Menschen zu den sonntäglichen Gottesdiensten mit Kaffee und Schrippen.
Von 1902 bis 1908 leitete Constantin Liebich den Verein hauptamtlich. Hier war nun endlich Platz genug, die Vorstellungen des Vereins „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu realisieren. Ein Heim zur vorübergehenden Unterbringung von Jugendlichen wurde eingerichtet, auch jugendliche Obdachlose, die zu öffentlichen Wärmehallen keinen Zutritt hatten, fanden hier einen Raum. Die Jugendhilfe und die Arbeitsvermittlung erhielten eigene Büroräume. In der Schreibstube wurden diverse Aufträge angenommen und damit für einige der zahllosen Arbeitslosen eine Arbeitsmöglichkeit geschaffen.
„Die Brocke“, wie sie allgemein genannt wurde, war neben der Schrippenkirche die wohl bekannteste Einrichtung des Vereins. Diese Brockensammlung ermöglichte es, arbeitslosen Handwerkern und obdachlosen Jugendlichen stundenweise oder auch über einen längeren Zeitraum hinweg, Arbeit zu geben. Das Wort Brocken kam von „brechen“: Das von der Gesellschaft Abgebrochene, der Abfall, sollte der Vernichtung entrissen werden. Jeden Morgen zogen ein Dutzend Personen mit Pferdegespannen oder Handwagen durch die Straßen und sammelten „die Brocken“ ein, die dann in den verschiedensten Werkstätten wie Polsterei, Schneiderei, Bücherkammer, Hauptwerkstatt mit Schlossern, Klempnern, Tischlern soweit möglich wieder aufgearbeitet und im eigenen Kaufhaus „KaDeWe“ (Kaufhaus des Wedding) gegen geringes Entgelt an die arme Kundschaft aus der Nachbarschaft verkauft wurden.
Nach dem ersten Weltkrieg erhielt die Brockensammlung den behördlichen Auftrag, die Verwertung von Altsachen aus dem Reichsheer zu übernehmen. Das rettete den Verein vor der Stilllegung der Brocke. Während der 1920er Jahre konnte sich der Verein mehr schlecht als recht über Wasser halten. 1938 wurde die Schrippenkirche gleichgeschaltet, das Haus seitdem von der Hitlerjugend genutzt. Mehr ist über die Zeit bis 1945 nicht bekannt.
Im zweiten Weltkrieg ist das Vorderhaus der Ackerstraße 52 zerstört und das Quergebäude beschädigt worden.
Nachdem es nach dem Krieg relativ schnell repariert werden konnte, wurde das Gebäude von den Amerikanern zur Verteilung von Care-Paketen benutzt. Danach richteten Nonnen in dem Haus ein Mädchenpensionat ein, das Kriegswaisen aufnahm. Ab 1960 wurde es noch als Alten-, Kinder- und Jugendheim genutzt. Als die Versöhnungskirche in der Bernauer Straße mit dem Mauerbau ihr Kirchengebäude verlor, zog sie für vier Jahre ebenfalls in das Haus.
Mit der Kahlschlagsanierung der gesamten Gegend wurde aber das Schicksal des traditionsreichen Hauses im Rahmen eines Ringtausches mehrerer Grundbesitzer 1976 besiegelt. Das Heim sollte in einen Neubau in der gegenüberliegenden Ackerstraße 136/137 verlegt werden. Das alte Gebäude musste Platz machen für ein achtstöckiges Wohnhaus.
1979 – noch vor der Einweihung des neuen Wohnheims – gründete sich der Verein „Alte Schrippenkirche“, um für den Erhalt des Altbaus zu kämpfen. Er wollte einen Träger für das Haus finden, um es als sozialgeschichtliches Baudenkmal zu erhalten und gleichzeitig das alte Nutzungskonzept von Constantin Liebich zeitgemäß wieder aufzunehmen: Werkstätten und Wohnheim für arbeitslose und lernschwache Jugendliche, Kaffeestube für Jung und Alt, kulturelle Einrichtungen und Treffpunkt im Kiez. Ein in Auftrag gegebenes Gutachten bescheinigte dem Gebäude eine gute Bausubstanz. Doch der schon seit Jahren bestehende Plan des Bezirksamtes, im Rahmen des großflächigen Abrisses auch die Ackerstr. 52 abzubrechen und neu zu bebauen, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die verbissene Haltung der Verantwortlichen ließ den Plänen des Vereins keine Chance. Das Bezirksamt kündigte an, am 1. November 1979 Wasser und Strom sperren zu lassen. Zwar wurde kurz vor Schluss noch ein finanzkräftiger Träger gefunden, doch das konnte auch die Weddinger BVV nicht mehr umstimmen. Der Verein gab auf und verließ im Dezember das Gebäude.
Doch das letzte Kapitel der wechselvollen Geschichte dieses Hauses war noch immer nicht geschrieben. Denn kurz nachdem der Verein aus dem Haus war, wurde es von einer anderen Gruppe besetzt. Diese jungen Menschen versuchten, eigene Konzepte zu entwickeln, die sich ebenfalls an der traditionellen Nutzung orientieren sollten. Sie richteten ein Café ein, das als Infobörse und Aufwärmstelle genutzt wurde. Hier wurde gegessen und getrunken, es gab Räume für Sozialberatung und wieder eine Jobvermittlung. Außerdem wurden Jugendlichen aus der Umgebung Räume zur Verfügung gestellt, die auch selbst am Haus mitarbeiteten. Daneben wurde von den Besetzern eine Gefangenenbetreuung organisiert. Ehemaligen Knackies wurden Räume zum Ausbau als Wohnmöglichkeit geboten. In den Monaten des Bestehens dieser „neuen Schrippenkirche“ wurde das Haus ein wichtiger Anlaufpunkt im Kiez. Besonders auch für alte Leute, denen durch den Abriss ganzer Straßenzüge ihre vertraute Heimat genommen wurde. Hier im Haus fanden sie noch einen letzten Rest ihres Kiezes wieder. Doch als am 7. März 1980 die Polizei das Haus räumte, standen auch schon die Abrissbagger bereit.
Im Jahre 1989 erinnerte sich das Weddinger Bezirksamt dann an Constantin Liebich und ließ am heutigen Wohnhaus der Ackerstraße 52 eine Gedenktafel für ihn anbringen. Der nichtssagende Text vermittelt leider nichts über die wechselvolle Geschichte der Schrippenkirche und die Leistungen von Liebich.

Dankesbrief an Constantin Liebich, 1907:

„Sehr geehrter Herr! Mein Name ist Julius Schützling, geb. am 10. Jan. 1886 zu Neustadt. Am 9. Juni 1902 kam ich als sündhafter und total heruntergekommener Mensch nach Berlin; hatte in Neustadt geschäftliche Sachen unterschlagen und flüchtete deshalb nach Berlin. Meinem lieben Vater habe ich es noch heute zu verdanken, daß er so rücksichtsvoll gegen mich war und, um die Sache nicht zur Anzeige kommen zu lassen, den Schaden deckte. Ein paar Tage lungerte ich so ohne Dach und Fach in Berlin herum, bis ich Ihre werte Adresse erfuhr und mich an Sie wendete, auch von Ihnen sehr freundlich aufgenommen wurde. Bin Ihnen daher noch vielen Dank schuldig, da ich durch Ihre Bemühung und Tätigkeit für mich auf einen anderen Lebenswandel gekommen bin. Nachdem Sie mich sechs Wochen lang freundlichst und gütigst versorgten, sandten Sie mich am 30. Juli 1902 als Hofgänger nach Altdorf zu Herrn Inspektor Schütte, woselbst ich bis zum 30. März 1907 ununterbrochen arbeitete. Es hat mir auch da sehr gut gefallen. Der liebe Gott erhörte meine alltäglichen Gebete und zeigte mir immer den rechten Weg. Am 30. März 1907 fuhr ich nun wieder zu meinen lieben Eltern zurück, und diese vergaben mir meine früher begangenen Taten. Fand dann am 3. April gleich Arbeit in einer Buchhandlung und gedenke zum Herbst Soldat zu werden.“*

* Aus „Stattreisen: Wedding“

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1 Kommentar

  1. Hi,
    danke für den interessanten Einblick in die Stadtgeschichte. Ein Bekannter kümmert sich auch heute noch um Polsterarbeiten, die er teilweise aus Salzburg geschickt bekommt. Sein Großvater ist etwa um neunzehnhundert in die Stadt gezogen, weil er mehr von der Welt sehen wollte.

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