Schwindsuchtbrücke

1905 wohnte über die Hälfte der Einwohner Berlins in Wohnungen, in denen jedes beheizbare Zimmer mit drei bis sechs Menschen belegt war.

Ende der 1920er Jahre bis Anfang der 30er wuchs die Stadt auf 3,5 Millionen Menschen an. Das Elend nahm parallel zur Wirtschaftskrise immer mehr zu. Die Hausbesitzer stopften die Wohnungen bis zum Bersten voll, um dort jeden nur möglichen Profit herauszuholen. Wer nicht zahlen konnte, wurde gnadenlos rausgeschmissen, was nicht selten in Verzweiflung und Selbstmord der Betroffenen endete. Der Kinofilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“, der in der Ackerstraße gedreht wurde, beschreibt sehr deutlich und ergreifend die damalige Lebenssituation des Industrie-Proletariats und der Arbeitslosen in den Berliner Arbeiterbezirken.

Ein Beispiel dafür ist auch die Eisenbahnbrücke am nördlichen Ende der Gartenstraße im Wedding. Sie war die Anbindung des Stettiner Bahnhofs an der Invalidenstraße Richtung Norden, Stettin, Rostock, Greifswald. Zwar hieß sie offiziell Liesenbrücke (nach der dort ankommenden Straße), bekam aber früh einen anderen: Man nannte sie die „Schwindsuchtbrücke“. Dieser Name war aus der Erfahrung heraus geboren, denn unter der Brücke schlief damals wohnungsloses, zugezogenes Industrieproletariat. Familien, die aus ihren Wohnungen geworfen wurden. Die Obdachlosen bauten sich dort Bretterverschläge oder Zelte auf. Dass das nicht gesund war, zeigt in makaberer Weise der Name, der dieser Brücke vom „Volksmund“ gegeben wurde. Ein gusseisernes Pissoir ohne eigenen Wasseranschluss war die einzige sanitäre Einrichtung unter der Brücke.

Im Krieg wurde die Schwindsuchtbrücke beschädigt und als 1961 die Mauer gebaut wurde, unmittelbar über den Gleisen, war ihre Zeit vorbei. Es stand nur noch das stählerne Gerüst, viele Jahre lang vor sich hin rostend. Auf einem Teil rollten noch die S-Bahn-Züge, die aus dem Süden West-Berlins ohne Halt unter Mitte hindurch zum Gesundbrunnen fuhren. Der Rest verfiel.

Lange nach dem Fall der Mauer wurde das einstige Bahnhofsgelände zum Park umgestaltet, auch die Brücke sollte einbezogen werden, aber dieses Vorhaben wurde nicht verwirklicht. Derzeit will eine Bürgerinitiative den Weg wieder öffnen und das Parkgelände so mit dem Humboldthain verbinden. Und noch einen anderen Plan gibt es: Ein Investor möchte das Brückenbauwerk kaufen und mitten hinein ein Hotel bauen, komplett eingefügt in die gebogene Brückenform.

Dann würde nichts mehr daran erinnern, dass dieser Ort einst als Schwindsuchtbrücke ein Beispiel war für die erbärmlichen Lebensbedingungen vor hundert Jahren.

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