Der 1. Mai 1929 und die Kämpfe um die Macht

Für meine Entwicklung wesentlich war der Umzug der Familie 1927 nach Berlin. Dort war Werner Hegemann, ein Bruder meines verstorbenen Vaters, bis zum Jahre 1933 als bekannter antimilitaristischer Schriftsteller und führender Städteplaner tätig. Er hatte viel geschrieben: „Das steinerne Berlin“, „Entlarvte Geschichte“, „Fridericus“, „Napoleon“ und andere Bücher, bis er im März 1933 emigrieren musste. Seine Bücher hatte ich zum Teil schon vor 1927 gelesen. Mit Kenntnissen daraus reizte es mich schon in der Schule, Lehrern zu widersprechen, so dass ich mehr und mehr in Opposition geriet.
Um so mehr fühlte ich mich in dem Kreis wohl, der sich an jedem Sonntagnachmittag im Hause meines Onkels traf, Mitarbeiter von der „Weltbühne“ und vom „Tagebuch“, Schriftsteller wie Hermann Kesten und Alfred Kantorowicz. Es wurde über kulturelle und tagespolitische Probleme diskutiert. Die Prinzipien der Humanität und der Demokratie wurden von uns allen anerkannt; und wir waren der Überzeugung, dass die Rechtsradikalen eine enorme Gefahr für Deutschland und die Welt bedeuteten. Es blieb nicht aus, dass die Theorien von Marx und Engels und die Praxis des Lebens in der Sowjetunion ebenfalls diskutiert wurden.

Berlin war eine faszinierende Stadt damals. Man konnte recht schnell zum „gelernten Berliner“ werden. Dort pulsierte das politische und kulturelle Leben wie in kaum einer anderen Metropole. Nur wenige dachten in den Jahren 1927 und 1928 an eine große Weltwirtschaftskrise, an eine faschistische Diktatur in Deutschland und an einen neuen Weltkrieg. Die bürgerliche Demokratie erschien mir als ausreichend funktionierendes System, das die Rechtsextremisten in Schranken halten und den Übergang in den Sozialismus erlauben würde. Doch dann kam mit dem 1. Mai 1929 eine schwere Erschütterung: Die traditionellen Maidemonstrationen, zu denen die KPD aufgerufen hatte, wurden untersagt. Als dennoch in Berlin viele Tausende auf die Straße gingen, gab der Polizeipräsident Zörgiebel Feuerbefehl. Die Folge waren tote und verwundete Demonstranten in großer Zahl.
An diesem Tag irrte ich stundenlang durch die Straßen von Neukölln und Wedding und nahm die Empörung der dort lebenden Menschen, die zugleich Hilflosigkeit war, in mir auf. Mir wurde deutlich, dass die Republik in voller Schärfe gegen die „Linken“ losschlug, aber die „Rechten“ schonte. So wurde der Rote Frontkämpferbund (RFB) verboten. Aber die SA und SS blieben legal.

Die Reichstagswahl im September 1930 offenbarte ein enormes Anwachsen der NSDAP. Schlagartig kam eine tödliche Gefahr für den Frieden, für die Arbeiterbewegung und alle demokratischen Kräfte zum Vorschein. In den Universitäten und auf den Straßen tauchten mehr und mehr faschistische Schlägerbanden auf, von denen man nur sagen konnte: atavistisch, stupide und führergläubig. Diskussionen waren mit ihnen nicht möglich. Wenn sie keine Argumente mehr hatten, erwiderten sie zum Beispiel: „Ja, aber Marx ist doch Jude.“ Sie griffen immer wieder Personen an, die für sie Linke oder Juden waren.
Nun musste gehandelt werden. Die SPD und die Weimarer Republik hatten offensichtlich in den vergangenen Jahren versagt. So gelangte ich zu der Überzeugung, dass es notwendig war, den revolutionären Weg zu gehen, zeitweilig auf bürgerliche Freiheiten zu verzichten, um alle Kräfte gegen die drohende faschistische Diktatur, das hieß auch: gegen den Krieg, zu mobilisieren. Ich trat daher im Herbst 1931 der KPD bei.
Nach kurzer Studienzeit in München und Königsberg, wo ich mich der Roten Studentengruppe angeschlossen hatte, der Sozialisten aller Richtungen angehörten, kehrte ich im Sommer 1932 nach Berlin zurück und wurde für die Leitung einer Tarnorganisation ausgewählt, mit der die Rote Studentengruppe unzufriedene Nazis gewinnen wollte. Diese Tarnorganisation nannte sich „Nationalpolitischer Arbeitskreis“, war offiziell zugelassen, und ich als ihr Vorsitzender wurde von der KPD angewiesen, mich an der Universität politisch zurückzuhalten. Nur so entging ich später dem Beschluss, alle kommunistisch einmal aktiven Studenten von der Universität zu relegieren.

Wir führten eine Reihe von Veranstaltungen durch, beispielsweise einen Diskussionsabend über Ernst Jüngers „Der Arbeiter“ oder Moeller van den Bruck und sein „Drittes Reich“. Wir diskutierten mit Nazi-Anhängern auch über Ostpolitik, das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland im Laufe der Geschichte. Wir haben insbesondere mit Strasser-Anhängern einige ganz erfreuliche Diskussionen gehabt.
Strasser hatte Hitler angegriffen, dass er im Grunde doch ein Kapitalistenknecht sei. Er hat ihm die Finanzierung der NSDAP durch Leute wie den bekannten Kohle-Kapitalisten Kirdorf oder Thyssen vorgeworfen. Wir wussten, dass es in der SA manchen gab, der auf Otto Strasser hörte. Diese Gegner Hitlers in der NSDAP nannten sich „Schwarze Front“, hatten ein eigenes Organ und waren gar keine so kleine Gruppierung. Aber Goebbels hat es verstanden, in Berlin auf „nationalen Sozialismus“ zu machen. Manchmal ist er mit einem roten Halstuch aufgetreten. Er vermochte besonders bei den Arbeitslosen ziemlich viele Anhänger zu gewinnen. Sie wurden zum Teil in SA-Unterkünften untergebracht, erhielten Uniform und Verpflegung; sie glaubten an die Reden vom „nationalen Sozialismus“. Als Hitler dann an die Macht kam, war der Wedding rot, Neukölln war zum größten Teil noch rot, aber in anderen Bezirken – Zehlendorf, Steglitz usw. – war es Goebbels gelungen, große Teile des Bürgertums und des Proletariats zu gewinnen. Er war dermaßen demagogisch… der Kerl hat es zustande gebracht. Ich kann mich an eine Sportpalastkundgebung erinnern, ich hatte es nicht für möglich gehalten, es waren typische Arbeiterjungens, die da in SA-Uniform mit großer Selbstverständlichkeit „Heil Hitler“ schrien, ihre Lieder sangen und bei Diskussionen sagten: „Nur der Nationalsozialismus bringt uns den Sozialismus“.

Wohlgemerkt, die Mehrheit der Bevölkerung stand bei weitem nicht bei den Nazis, die KPD war 1932 stärkste Partei in Berlin. Dennoch war es erschütternd, wie groß der Anteil der NSDAP geworden war.
Was die nationalen Interessen des deutschen Volkes anlangte, konnte seitens der KPD zu wenig den demagogischen Versprechungen Goebbels entgegengesetzt werden, so dass die Nazis vielen Menschen als die einzige Kraft erschienen, die auf nationale Fragen eine Antwort hatte. Wir wurden als „Moskowiter“ beschimpft, als Leute, die über die III. Internationale eher Moskaus als Deutschlands Interessen vertreten würden.
Schon auf der Ebene des Auftretens der Parteiredner in großen Massenveranstaltungen war es schwer, der Goebbels’schen Verführungskunst etwas entgegenzusetzen, was die Massen für den Sozialismus, für Demokratie und Frieden begeistern konnte. Referate von führenden KPD-Funktionären folgten meist dem, wie wir es nannten, „Prinzip Stopfgans“. Nach einer Rede von Hermann Matern, dem Vorsitzenden der Königsberger Bezirksleitung, auf einer Massenveranstaltung sind wir zu ihm gegangen: „Du hast alle richtigen Argumente gebracht! Aber sie kommen bei den Massen nicht an!“ „Du magst recht haben, ich will es mir noch einmal überlegen“, hat er geantwortet. Aber er bekam von Moskau und dem ZK-Haus in Berlin alles derartig haargenau vorgelegt, dass er sich nicht freireden konnte.

Im Wettlauf gegen die Nazis haben die Kommunisten wie die Sozialdemokraten nur Menschen, nur die Köpfe und Herzen der Menschen aufbieten können. Das Geld war auf Seiten der Deutschnationalen, der NSDAP, der SA und SS. Man muss in diesem Zusammenhang auch immer wieder darauf hinweisen, dass bei keiner Wahl, in keinem Moment die Nazis jemals die Mehrheit der deutschen Wähler hatten. Deshalb ist es auch ein empörender Fehler gewesen, dass die KPD gegen die SPD noch 1931/32 so scharf aufgetreten ist. Wenn man allein bei der letzten Reichspräsidentenwahl einen gemeinsamen Kandidaten gefunden hätte, ob das Otto Braun gewesen wäre oder irgendein anderer, das ist in so einem Fall gleichgültig, hätte man Hindenburg auf diese Weise hinausmanövrieren können. Damit hätte man verhindert, dass die Nazis legal im Januar 1933 als Regierung eingesetzt wurden.

Wenn man bedenkt, dass die NSDAP nach dem ersten Weltkrieg eine unverhüllte Kriegshetze betrieb, sich auf „Mein Kampf“ bezog, wo offen von der „Eroberung notwendigen Lebensraums“ in Russland und Polen und den baltischen Ländern gesprochen wurde, … es packte einen die Wut gegen diese faschistischen Kriegstreiber, die sich 1932 anbiederten, sie würden nur mit legalen Mitteln die Macht zu erringen versuchen. Mir war es ein Bedürfnis, in einer möglichst großen antifaschistischen Aktionseinheit, die sich dann tatsächlich im Sommer 1932 abzeichnete, diesen Vernichtern unseres Lebens in Deutschland und in anderen Ländern die Faust zu zeigen, die uns provozierten mit riesigen Aufmärschen, auch vor dem Liebknechthaus in Berlin, von der Polizei geschützt, wo sie schrien: „Nieder mit der Kommune! Nieder mit den Untermenschen! Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt…“

Dietfried Müller-Hegemann

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1 Kommentar

  1. Am 9. Juni 2009 eröffnet um 17 Uhr im Mitte Museum am Gesundbrunnen eine Ausstellung „Eskalation der Gewalt – Blutmai 1929“
    Die Ausstellung wird dann vom 11.6.2009 bis 28.2.2010 zu sehen sein, So bis Di 13-17 Uhr und Do 13-18 Uhr.

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