Die Festung Küstrin

85 km. Triumph der Gerechtigkeit?

Berliner Vater wollte Sohn töten lassen, weil er der Familie Schande machte

Der Eigentümer und Chef einer Familienfirma mit Sitz in Berlin, die er unter schwierigsten Bedingungen groß gemacht hatte, hatte sich alle Mühe gegeben, seinen Sohn zu einem würdigen Nachfolger zu erziehen und gut zu verheiraten, natürlich mit einem Mädchen aus der Familie, mit der richtigen Religion. Aber der Sohn interessierte sich mehr für Männer als für Frauen und mehr für die neueste Musik als für die Arbeit in der Firma. Je strenger die Erziehung durch den Vater wurde, desto unglücklicher wurde der Sohn, bis er schließlich nicht einmal mehr die erfolgreiche Firma übernehmen wollte. Er wollte nur noch weg. Mit seinem Freund versuchte er, nach England zu reisen und sich dort Arbeit zu suchen.

Die Reisepläne flogen auf, und der wütende Vater wollte beide jungen Männer töten lassen, um die Ehre zu retten. Seine Mitarbeiter weigerten sich aber, dabei zu helfen. Der Freund jedoch wurde vor den Augen des Sohnes getötet. Später wurde der Sohn, der inzwischen nicht mehr aufmuckte, zwangsverheiratet mit einem passenden Mädchen, das er nicht liebte, und musste eine Filiale hundert Kilometer weiter weg leiten, um sich zu beweisen – und um nicht am Berliner Leben teilnehmen zu können.

Bis zum Tode seines Vaters musste dieser junge Mann sich ununterbrochen verstellen, allen gegenüber, und er hat nie mehr wirkliche Freunde gehabt. Dennoch übernahm er nach dem Tode seines Vaters die Firma und führte sie zu großem Erfolg. Er stellte viele Mitarbeiter aus anderen Ländern ein und respektierte, dass sie einen anderen Glauben hatten. Bei ihm durfte niemand wegen seiner Religion oder seiner Abstammung diskriminiert werden, obwohl er selbst seinen Glauben verloren hatte.

Überall in Berlin und Potsdam setzte er moderne Bauten hin.

So wurde er einer der berühmtesten Deutschen.

Er starb kinderlos. Die Firma ist inzwischen erloschen.

In Neukölln steht übrigens ein Denkmal, das dankbare ausländische Mitarbeiter trotz allem dem Vater setzten.

Die Rheinsberger Tafelrunde

70 km. Vom Vater und vom Sohn

Der Vater hatte dem Sohn ein zweites Mal das Leben geschenkt. Als Kronprinz Friedrich aus der Festung Küstrin freigelassen und zwangsverheiratet war, gewöhnte er sich in Rheinsberg daran, mit seinen Freunden stundenlang zu essen und zu reden. Das waren alles Männer. Friedrichs Gattin durfte im anderen Flügel des Schlosses machen, was sie wollte, jedenfalls solange sie nicht das eine wollte. Die Zwangsehe bestand nur auf dem Papier.

Rheinsberg, der einzige Ort, an dem Friedrich nach eigenen Worten wirklich glücklich war, ist ein besserer Ort als Küstrin, um über das schreckliche Verhältnis dieses Vaters und dieses Sohnes nachzudenken.

Dabei kann ich Ihnen eine Religionsstunde nicht ersparen, die zu denken gibt, selbst wenn Sie nicht gläubig sind.

Auch Atheisten werden nämlich zugeben, dass vor ein paar tausend Jahren in Mittelost etwas von ungeheurer Bedeutung für die Menschheit geschehen ist: Da hat ein Volk die Götter abgeschafft. Alle Götter, Ober- und Untergötter, Halbgötter, Götzen, heilige Tiere und was es da noch so gab wurden einfach verboten. Übrig blieb nur ein einziger Gott, aber der ist unsichtbar und hat keine konkreten Eigenschaften, also kann man ihn nicht abbilden. Es ist aber auch verboten, sich eine konkrete Vorstellung von ihm zu machen und die abzubilden. Dieser Gott ist so abstrakt und so ungreifbar, dass man ihn kaum unterscheiden kann von dem, woran ethisch verantwortungsbewusste Atheisten glauben.

Im Wesentlichen weiß man nur dies über ihn, dass er alles geschaffen hat, was es gibt, die Menschen inbegriffen, und dass er mit denen einen Bund geschlossen hat: Hier sind zehn Gebote und gut sechshundert Gesetze, Hygiene- und Bauvorschriften – wenn ihr euch daran haltet, wird noch mal was aus euch werden, und es wird euch gut gehen.

Ob Sie nun glauben, dass es diesen Gott wirklich gibt oder dass er ein menschliches Konstrukt ist – Friedrich Wilhelm I. hat es wirklich gegeben. Oder ist er etwa auch ein menschliches Konstrukt? Es gibt Übereinstimmungen.

Erstens hat Friedrich Wilhelm die damals übliche Vergötterung der absolutistischen Herrscher abgeschafft. Sein Vater und die benachbarten Fürsten ließen sich ja geradezu anbeten mit Hofzeremoniell, Festen, Feuerwerk und Musik, besonderen Anreden usw usw, sie kleideten sich in Hermelin, trugen goldene Kronen auf dem Kopf, hielten goldene Stäbe und Kugeln in den Händen, und überall ließen sie sich zwei- oder dreidimensional abbilden und errichteten Schlösser, die Heiligtümern ähneln. Ludwig XIV. in Frankreich war einer der Schlimmsten; aber alle anderen machten es ihm nach, und das Volk spielte das Spiel lange mit. Bis Friedrich Wilhelm I. kam und das alles abschaffte. Die meisten seiner geerbten Schlösser verkaufte oder vermietete er, und im Stadtschloss in Berlin und dem von Potsdam bewohnte er nur ein paar mit dem Notwendigsten eingerichtete Zimmer. Es gibt, weil er nun einmal der Chef war, einige Staatsporträts, aber fast keine Denkmäler von ihm. Er trug nur eine einfache Soldatenuniform und verringerte die Kosten für seine Hofhaltung um achtzig Prozent. Da blieb nichts mehr übrig für Feuerwerke und dergleichen. Übrig blieb eine höchst abstrakte, ungreifbare Idee: der König als erster Diener seines Staates.

Zweitens hat Friedrich Wilhelm zwar nicht alles geschaffen, aber doch den modernen preußischen Staat. Er hat in einer „Revolution von oben“ sein Land rund hundert Jahre in die Zukunft befördert und Verwaltungsstrukturen, Gesetze und ein Verteidigungsheer geschaffen, die wirtschaftliche Entwicklung in Gang gebracht und dabei auch noch für einen ausgeglichenen Haushalt gesorgt. Das alles ist nicht durch den Zeitgeist und allerlei Entwicklungen entstanden, während er zufällig auf dem Thron saß, sondern dieser eine Mann hat es sich ausgedacht und auch noch durchgesetzt. Dabei hat er seinen Mitmenschen und sich selbst moralisch Übermenschliches abverlangt.

Drittens hat er mit seinen Menschen genau so einen Pakt geschlossen: Ihr gehorcht mir, haltet euch an meine neuen Regeln, und damit wird noch mal was aus diesem sandigen, sumpfigen Land. Der Adel musste das gute Vorbild sein und loyale hohe Beamte und Generäle liefern. Diese Staatsidee hat sich bis ins zwanzigste Jahrhundert bewährt, und vieles davon bewährt sich immer noch.

Kennen Sie andere Herrscher, über die man diese drei Dinge zugleich sagen kann?

Jochen Klepper gab seinem Roman über diesen König den Titel Der Vater. Klepper war ein Kirchenmann und wusste bestimmt, was er mit diesem Titel wagt. Der Gott, den die Christen und Juden gemeinsam haben, wird von den Christen ja „der Vater“ genannt.

Dieser Gott des Alten Testamentes verlangt ja den Menschen Übermenschliches ab genau wie Friedrich Wilhelm I., und wie dieser wurde er gefürchtet, aber nicht immer verstanden.

Im Neuen Testament lesen wir, wie Gott, der Vater, um sich wirklich verständlich zu machen, sich als „Gottes Sohn“, als Mensch von Fleisch und Blut unter die Menschen begeben hat, um in Menschensprache und mit menschlichen Emotionen dieses abstrakte Gesetzeswerk des Vaters vorzuleben, zu erklären, auch zu relativieren und vor allem immer wieder mit Beispielen zu verdeutlichen. Menschen können Menschen besser erreichen als eine abstrakte Idee. Diesen Sohn, Jesus, darf man auch abbilden, egal wie kitschig und geschmacklos. Über ihn gibt es Unmengen Erzählungen und Legenden, von ihm gibt es Reliquien, darunter einige Quadratmeter Vorhaut und einige Kubikmeter Splitter vom Kreuz, an dem er starb, und einen fotografisch genauen Gesichtsabdruck auf einem Leichentuch. Sie können das alles glauben oder nicht. Sie können es Unsinn finden, dass ein Vater identisch sein soll mit seinem Sohn. Darum geht es hier nicht. Es geht um die Arbeitsteilung zwischen den beiden.

Friedrich II., genannt „der Große“, war ganz anders als sein furchteinflößender Vater. Er wurde dauernd überall abgebildet, bis heute, wobei man genau wie bei Jesus den schlimmsten Kitsch nicht scheut. Schauen Sie sich die Mietfahrradreklame auf dem Potsdamer Hauptbahnhof mal an: „Ring, ring, here comes the King.“

Von Friedrich sind zahllose Anekdoten und Legenden überliefert. Und wie in den Evangelien kennt man von ihm viele kurze und längere Texte, sehr menschlich formuliert.

Vor allem aber: Friedrich führte das Werk seines Vaters, den Aufbau eines modernen Staates, weiter und machte es verständlich. Schauen Sie in die Schulbücher der letzten Jahrhunderte: die Arbeitsteilung zwischen Vater und Sohn ist wirklich dieselbe.

Nun kann man einwenden, dass dies bei etlichen Familienfirmen genauso ist. Der Vater hat eine Zukunftsvision oder etwas erfunden und baut mit eisernem Fleiß einsam ein Imperium auf, der Sohn zeigt auch Herz für die Mitarbeiter, und man kann auch mal mit ihm ein Glas Wein trinken. Meist versäuft dann der Sohn des Sohnes das ganze Imperium.

Aber Jesus und Friedrich hatten beide keine Kinder. Jesus war nicht verheiratet, Friedrich nur auf dem Papier, und sobald er es konnte, hat er seine Frau nach Niederschönhausen geschickt. Sein geliebtes Schlösschen Sanssouci hat sie nie gesehen. Jesus und Friedrich verstanden sich beide außer mit ihrer Mutter nur mit einer Frau, Maria Magdalena beziehungsweise Wilhelmine. Statt mit Frauen umgaben sie sich mit gleichaltrigen Männern, gern bei Gesprächen beim Essen. Die Abbildungen der Tafelrunde von Friedrich in Rheinsberg und Sanssouci ähneln sprechend den Darstellungen des Letzten Abendmahls. Und von Friedrich gibt es bis heute alle möglichen Gegenstände, Möbel, Bücher, Gemälde, Schnupftabakdosen und Kleidungsstücke. Allein in Haus Doorn stehen hunderte historisch gesicherte Friedrich-Reliquien herum.

Das Leben Jesu wie das Friedrichs wurde so oft abgebildet und beschrieben, dass ich zweifle, ob diese Ähnlichkeiten historisch wahr oder hinterher hineininterpretiert sind. Vielleicht sind all diese Abbildungen, Schulbücher und sorgfältig inszenierte Museumsausstellungen über Friedrich ja nur entstanden, weil Jesus in allen Köpfen herumspukt. Vielleicht ist das ja alles Projektion.

Aber Friedrich Wilhelm I. wollte seinen eigenen Sohn Friedrich zum Tode verurteilen lassen und hat ihn nach schlimmsten Qualen dann doch weiterleben lassen, zunächst hier in Rheinsberg. Das ist keine Projektion.

Und ob Sie es wollen oder nicht: Friedrichs Grab war nach seinem Tode leer, weil er sich zur Rechten seines Vaters in der Garnisonkirche befand.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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