Das Herz von Neuhardenberg

57 km. Im Namen des Vaters, des Sohnes und der preußischen Tugenden

In Neuhardenberg fasste ich den Entschluss, diese sperrige Betrachtung zu Ende zu schreiben, die manchen Leser ärgern wird. Der Anfang steht im Kapitel über Rheinsberg. Aber Großbeeren, das wir noch besuchen werden, spielt auch eine Rolle. Dort wurde uns erklärt, im Altarfenster seien die Preußischen Tugenden dargestellt. Der katholische Theologe neben mir, der mit Preußen nichts zu tun haben wollte, lächelte überlegen und legte auf dem Kirchhof dar, dass das die christlichen Kardinaltugenden seien. Als ich das später einem Freund erzählte, der mit Religion nichts zu tun haben wollte, lächelte der überlegen und erklärte, dass es um die Goldene Regel, den Kategorischen Imperativ und dergleichen gehe, und dass Konfuzius, Lao Tse, die alten Griechen und überhaupt alle Kulturvölker diese Tugenden kannten und kennen. Religion habe man dazu nicht nötig.

Er hat ja Recht. Seit jeher bringen alle ordentlichen Kulturvölker ihren Jugendlichen gewisse Tugenden bei, ohne die sich die Menschheit schnellstens selbst ausrotten würde, und halten sich gegenseitig daran. Ob man die Religion, das Gesetz, die Philosophie oder persönliche Einsicht benötigt, um sich daran zu halten, ist nicht so wichtig; Hauptsache, es funktioniert.

Natürlich erklärte die junge Kirche diese Tugenden zu christlichen Kardinaltugenden – was hätte sie auch anders machen sollen, mit den Juden, Jesus und den Griechen im Nacken? Das heißt aber leider nicht, dass sich alle Christen ununterbrochen daran gehalten haben. Das brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Die Kardinaltugenden kamen aus der Mode.

In den Niederlanden blies ihnen dann der Calvinismus neues Leben ein. Die Menschen wollten gern sparsam, fleißig, qualitätsbewusst und aufs Allgemeinwohl bedacht sein und erwarteten das auch von den Anderen. Das dortige Goldene Zeitalter im siebzehnten Jahrhundert hat gewiss damit zu tun. In anderen Ländern förderten die Fürsten Kunst und Musik. In den Niederlanden förderten die Bürger Kunst, Musik, Wissenschaft und gegen den Strich gebürstete Literatur und Philosophie. Damals stand das nicht im Widerspruch zu ausgeprägtem Geschäftssinn.

Toleranz war dabei besonders wichtig. Von überall her kamen Intellektuelle, die vor der Inquisition flüchteten, und trugen zur Blüte von Wirtschaft und Kultur bei. Sparsamkeit ist auch eine angenehme Tugend, wenn sich alle daran halten: Man braucht seine Mitmenschen nicht mit geldverschlingenden Palästen, Autos und Weinen zu beeindrucken.

Der Große Kurfürst und seine holländische Frau haben jedenfalls nicht nur niederländisches know how, sondern auch diese Normen und Werte ganz bewusst nach Brandenburg importiert, ohne sich dabei ausdrücklich auf Religion zu berufen. Gute Beispiele wirken besser als Angst vor ewiger Verdammnis oder vor dem Scheiterhaufen.

Sein Enkel Friedrich Wilhelm I., der Vater, hat dann diese Tugenden auf geradezu übermenschlichem Niveau vorgelebt und allen anderen abverlangt, ähnlich wie der Gott des Alten Testaments. Sein ganzes Staatssystem war darauf gegründet. Und der Sohn, Friedrich II., genannt der Große, hat sie den Menschen nahe gebracht ähnlich wie Jesus.

Nachdem dann der Sohn zur Rechten seines Vaters in der Garnisonkirche ruhte, sprach man von den Preußischen Tugenden, und fast alle hielten sich daran und brachten ihre Mitmenschen auch dazu. Gerade der preußische Adel war sparsam, tolerant, fleißig, aufs Allgemeinwohl bedacht, staatstreu, qualitätsbewusst, unbestechlich, pünktlich und verachtete alle, die mehr scheinen wollten als sein. Das aufkommende Bürgertum übernahm diese Normen und Werte, sie fanden ihren Weg in die Schulbücher, und sie haben dazu beigetragen, dass Preußen, wie das Konglomerat von Kleve bis Königsberg nun hieß, bis lange in die Nazizeit ein ordentliches Land blieb.

Das ist aber ziemlich genau die Funktion, die für gläubige Christen der Heilige Geist hat: das Weiterleben der Lehre vom Vater und vom Sohn in den Menschen als Richtschnur fürs Denken und Handeln.

Wie im Christentum haben wir also eine dreigliedrige Arbeitsteilung zwischen einem Vater, einem Sohn und den preußischen Tugenden. Lieber Leser, es geht mir nicht darum, gewisse Könige und Tugenden auf eine Stufe mit Gott zu stellen. Preußen ist ein durch und durch weltlicher Staat. Friedrich II. glaubte an nichts. Die meisten Berliner geben bis heute nicht viel auf Religion.

Es geht hier also nicht um Transzendentes, sondern um Struktur und Funktion, wofür ich mich als Mathematiker besonders interessiere.

Also kann ich es nicht lassen, weiterzudenken: Nachdem der Sohn zur Rechten seines Vaters keine Taten mehr verrichten konnte, übernahmen normale Menschen das Werk. In Preußen waren das zum Beispiel Stein und Hardenberg. Sie hatten mehr als andere verstanden, worum es ging. Sie waren imstande, die alte Lehre der neuen, veränderten Welt anzupassen. Sie reformierten den Staat ganz im Sinne des Vaters und des Sohnes, und durch ihr Werk konnte er stark bleiben und fortbestehen, egal, wie sehr Napoleon alles durcheinandergebracht hatte.

In der katholischen Kirche würde man sie Kirchenväter nennen, und in den Schulbüchern wurden sie ähnlich verehrt.

Aber ist dieser Vergleich nicht an den Haaren herbeigezogen? Gibt es nicht in allen Staaten Menschen, die eine Idee weitergedacht und Reformen durchgeführt haben? Bin ich jetzt krampfhaft auf der Suche nach Analogien zwischen dem Götterhimmel eines Staates und dem einer Religion? Urteilen Sie selbst!

In Neuhardenberg steht ein Schloss, das der damalige König, Friedrich Wilhelm III., der Mann von Luise, dem Grafen Hardenberg schenkte aus Dank für seine Reformen des Staates. Davor steht eine Kirche, und weil die von Schinkel entworfen wurde, wollten wir sie besichtigen. Ich habe Schinkel nie richtig schätzen gelernt und finde ihn überbewertet, also nichts wie rein!

Die Küsterin wollte gerade vor unserer Nase zusperren, weil sie Feierabend hatte, zeigte aber Erbarmen, als sie das niederländische Nummernschild meines Autos sah. „Wollen Sie denn auch das Herz des Grafen Hardenberg sehen?“ – „???“ – „Ob Sie auch das Herz…“ – „Das was??“ – „Na, kommen Sie mal rein. Ich zeige es Ihnen.“

Wir betraten eine zweifellos protestantische Kirche. Sie führte uns hinter den Altar. Auf dessen Rückseite hing eine gerahmte Kalligraphie mit Worten Hardenbergs. Sie hängte sie ab, und dahinter erschien eine Tabernakeltür. Wirklich! So etwas bekommt man nur im Tabernakeltürgeschäft, so etwas findet man sonst nur in katholischen Kirchen, und dahinter wird das Allerheiligste aufbewahrt. Eine edle Tür aus Messing.

Sie öffnete die Tür, und sofort ging drinnen ein Licht an wie im Kühlschrank. Technisch ist Preußen eben doch weiter als die katholische Kirche.

Und drinnen lag unter einem Glassturz ein menschliches Herz. Eine Reliquie! Im Altar! Das Herz eines Kirchenvaters! Katholischer geht es doch wohl nicht?

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*