Friedhöfe

Mauern im Kopf

In Berlin gibt es überall alte Friedhöfe. Da Berlin bis ins zwanzigste Jahrhundert aus unabhängigen Städten und Dörfern bestand, in denen jede Kirchengemeinde ihren eigenen Friedhof hatte, kam es nie zu einem riesigen Zentralfriedhof wie zum Beispiel in Wien. Die Berliner Friedhöfe laufen ökonomisch derzeit nicht gut, weil sich so wenig Leute begraben lassen. Aber man kann auf ihnen schön spazierengehen und ins Nachdenken kommen. Zum Beispiel zu Weihnachten, dem Fest des Friedens.
In Neukölln liegen Friedhöfe der verschiedensten Bekenntnisse friedlich direkt nebeneinander oder nahe beieinander. Friedrich Wilhelm I. hätte seine Freude daran gehabt. Sein Sohn Friedrich II. hätte seine Freude an dem türkischen Friedhof neben der Moschee gehabt. Dort war ich aber nie, weil ich nicht weiß, wie man sich auf einem islamischen Friedhof benehmen muss. Ich will weder stören noch auffallen. Vielleicht ist das falsch gedacht, wie wir auf einem Weihnachtsspaziergang erfahren mussten.
Am zweiten Weihnachtstag war in Neukölln fast niemand unterwegs. Aber in dem kleinen Park hinter dem evangelischen Thomasfriedhof hörten wir Gesang. Wir schauten über die Friedhofsmauer und erkannten schwarz gekleidete Menschen und einen Geistlichen in einem Gewand, das wir ebensowenig einordnen konnten wie die Sprache der Gesänge.
Wenige hundert Meter weiter liegt Böhmisch Rixdorf, wo die Bauernhäuser der Religionsflüchtlinge immer noch stehen und wo ihre Nachfahren Friedrich-Wilhelm I. ein Denkmal errichtet hatten. Damals gab es noch keinen Nationalismus und keinen Rassismus. Wir fragten uns, was wohl die einheimischen Bauern und Handwerker empfunden hatten, als der König Fremden gestattete, hier ein ganzes Dorf zu gründen.
Einen Tag später, am Sonntag, ehemals dem dritten Weihnachtstag, machten wir wie oft einen Spaziergang über die Friedhöfe. Der Thomasfriedhof war fast menschenleer. Natürlich schauten wir nach, ob man erkennen kann, was da gestern los war. An der Mauer zum Park liegen Gräber mit Kreuzen und hin und wieder einer Marienfigur. Sie sehen aus wie alle anderen Gräber, aber die Namen sind türkisch, manchmal mit biblischen Vornamen. Die Aufschrift eines Kindergrabes rührt. Auf keinem Stein fehlt das Kreuz. Alles ist liebevoll gepflegt. Es gibt auch Aufschriften in einer Schrift, die nicht arabisch ist, aber wohl damit verwandt.
Wir schauten uns die Gräber an und ließen die Gedanken schweifen, wie wir es auf Friedhöfen in Deutschland, den Niederlanden, in Polen, Österreich, Frankreich, Norwegen, England, Schottland und Irland gewohnt waren. Das Christentum verbindet, der Tod verbindet.
Und dann kamen drei junge Männer in schwarzen Lederjacken, mit dem sorgfältigen Bartschnitt und Frisuren von Fotomodellen. Sie erwiderten unseren Gruß nicht, gingen vorbei, riefen dann von hinten, was wir an den Gräbern gesucht hätten.
Sie hörten nicht zu. Sie ließen uns keinen einzigen Satz ausreden. Sie schrieen ununterbrochen, viele Minuten, auf uns ein. Sie kamen dabei immer näher; ihre Haltung war drohend. Hier eine Zusammenfassung dessen, was sie schrieen und immer wieder gestikulierend wiederholten:
Hier hätten wir nichts zu suchen. – Was wir denn hier gesucht hätten? – Hier war gestern keine Feierlichkeit! – Sie, die Männer, hätten diesen Teil des Friedhofes gekauft, und niemand, der nicht zu ihnen gehöre, dürfe diesen Teil betreten. – Er, einer der Männer, würde sich auch nicht dem Grab meines Vaters nähern. Gräber seien wie ein Haus. Da bleibe man draußen. – Und wenn die eigenen Eltern hunderte Kilometer entfernt begraben wären, hätten wir hier erst recht kein Recht, einen Friedhof zu betreten, auch nicht um dieser fernen Eltern zu gedenken. – Und wenn wir überhaupt auf diesem Friedhof hätten sein dürfen und wenn denn hier etwa gestern eine Feierlichkeit gewesen wäre, hätten wir außerhalb dieses Besitzes bleiben müssen. Hier an der Rasenkante, viele Meter vor den Gräbern, finge das verbotene Gebiet an. – Man gehe einfach nicht über fremde Friedhöfe, und in Deutschland müsste das jeder wissen. – Er, einer der Männer, sei stolz darauf, ein Deutscher zu sein, und erwarte, dass wir uns auch nach deutschen Normen richteten. Ich sei ein Niederländer? Dann müsse ich mich dennoch an deutsche Normen anpassen.
Und dann, ganz überraschend zum Schluss, mit einem Blick auf meine Lederhose: Und überhaupt sähe ich aus wie ein Homosexueller, und solche hätten hier schon gar nichts zu suchen.
Kommunikationsversuche von uns in ihre Richtung machten alles nur schlimmer. Irgendetwas Gemeinsames ließ sich nicht finden. Wir fühlten blanken Hass, den wir nicht durchbrechen konnten. Wir waren froh, dass wir mit heiler Haut weggehen durften.
Diese Männer waren Christen; aber mit Weihnachten, Sonntag und Fried-hof hatte diese Begegnung wenig zu tun. Es ging nur um Besitz, um „mein“ und „unser“. Die Kreuze auf den Gräbern hatten uns angelockt; aber sie dienten der Ausgrenzung.
Ich konnte es nicht lassen, dem Leiter der evangelischen Friedhofsverwaltung eine Schilderung dieser Begegnung zu schicken mit dem Vorschlag, diesen Teil des Friedhofes mit Warnschildern auszustatten oder, noch besser, mit Stacheldraht einzuzäunen, damit arglose Spaziergänger nicht in Gefahr geraten.
Er schrieb zurück, dass dieser Teil des Friedhofes tatsächlich Eigentum der christlichen syrisch-orthodoxen Gemeinde sei, dass aber auch hier die üblichen Friedhofsgesetze und -verordnungen gelten: innerhalb der Öffnungszeiten freier Zutritt für jeden, der sich seinerseits an die geltenden Regeln hält. Er habe meinen Brief mit der Bitte um Stellungnahme an die syrisch-orthodoxe Gemeinde weitergeleitet. Danach habe ich nie wieder etwas gehört.
Die Diskussion über Islamisierung und die Demonstrationen dagegen leiden an begrifflicher Unschärfe. Wissenschaftler und Talkshowgäste streiten sich über die Frage, ob Gräueltaten, die im Namen des Islams begangen werden, im Namen des Islams begangen werden. Politiker streiten sich darum, ob der Islam zu Deutschland gehört oder Deutschland islamisiert wird. Parteien tun so, als gäbe es kein Problem, und der Verfassungsschutz observiert Moscheen. Aber auf einem christlichen Friedhof in Neukölln, ausgerechnet in Neukölln, wird man von Christen fast zusammengeschlagen, die sich darauf berufen, ein Niederländer müsste sich verhalten wie in Deutschland üblich.
Dieses Weihnachtserlebnis drängt den Verdacht auf, dass die Islamisierung Deutschlands gar nichts mit dem Islam zu tun hat.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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3 Kommentare

  1. Keine schlechte Geschichte, wenn auch sehr erwartbar. Schade, dass du nicht den A**** in der Lederhose hattest, über den islamischen Friedhof zu laufen. Die Begründung dafür ist übrigens ganz schwach.

  2. @ TaxiBerlin
    Was soll diese Abwertung des Autors? Dass Herr Wupper sich Gedanken über das Verhalten auf einem islamischen Friedhof macht, ehrt ihn.

  3. Das täte mir leid, wenn das auch beim Autor so angekommen wäre, das war nicht meine Absicht. Es ist wichtig, dass Menschen sich Gedanken machen, beispielsweise auch über das Verhalten auf einem islamischen Friedhof. Leider erfährt der Leser nur, dass sich der Autor Gedanken gemacht hat, aber nicht, ob diese Gedanken möglicherweise „falsch gedacht“ waren bzw. sind.

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