Auf der Berliner Stadtbahn, 1882

Am 7. Februar 1882, etwa zehn Jahre nach der Fertigstellung der Ringbahn, wurde auch die Berliner Stadtbahn fertiggestellt, die den Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) mit dem Westkreuz verband, wo sie eine Verbindung zur Ringbahn bekam. Im heutigen Bezirk Mitte verläuft die Stadtbahn auf gemauerten Bahnviadukten genau auf dem ehemaligen Wassergraben, der das alte Berlin als Teil der Befestigungsanlage umschloss.
Der Bau der Stadtbahn war anfangs von starker Kritik begleitet, da sie als überflüssig und vor allem zu teuer betrachtet wurde. Auch andere Teile der Berliner S-Bahn mussten sich in ihrer Geschichte immer wieder beweisen. Wie in den meisten Fällen verstimmte jedoch auch die Kritik am Bau der Stadtbahn kurz nach deren Fertigstellung.
Einige Monate nachdem die Stadtbahn in Betrieb gegangen war, beschrieb H. Rudolf seine Gedanken und Eindrücke während einer Fahrt auf den 11 Kilometern:

Die erste Anregung zur Ausführung einer Berliner Stadt-Eisenbahn hatte schon vor länger als zehn Jahren der ideenreiche und unermüdliche Baurat A. Orth gegeben und seine Ansichten darüber in verschiedenen Denkschriften („Eine Berliner Centralbahn, 1871“) dargelegt. Die Idee wurde bald darauf von dem Ober-Regierungsrat Hartwich (+ 1878), welcher damals Vorsitzender der deutschen Eisenbahngesellschaft war, aufgenommen und weiter verfolgt. Die ursprüngliche Idee Hartwichs war: Mittels einer von Osten nach Westen durch Berlin gehenden Stadtbahn und einer damit in Verbindung zu setzenden projektierten Südwestbahn in der Richtung über Charlottenburg und Potsdam nach Halle usw. bis Meiningen den zunächst davon berührten Landesteilen neue Adern des Verkehrs zu eröffnen und dadurch auch eine innigere Verbindung mit den südwestlichen Landesteilen und mit der Schweiz zu erzielen. Dies Projekt fand bei den beteiligten Regierungen das bereitwillige Entgegenkommen, aber die späteren ungünstigen Zeitverhältnisse hemmten die Realisierung des ganzen großen Projektes, indem zunächst der Bau der sogenannten „Südwestbahn“ an der Finanzfrage scheiterte.

Da man aber die Idee der Stadtbahn selbst, deren Herstellung aus mancherlei Gründen sich wünschenswert zeigte, deshalb nicht aufgeben wollte, so musste eine andere Grundlage für das Projekt gefunden werden. Und dass das einmal angeregte große Unternehmen nicht wieder im Sande verlief, war das Verdienst der preußischen Staatsregierung. Unter ihrer Ägide und unter Beteiligung verschiedener Eisenbahnverwaltungen (der Berlin-Potsdam-Magdeburger, der Magdeburg-Halberstädter und der Berlin-Hamburger) sowie auch der deutschen Eisenbahngesellschaft wurde im Jahr 1874 ein durch die Landesvertretung genehmigter Vertrag geschlossen und damit für die Ausführung der Stadtbahn eine finanziell gesicherte Basis geschaffen. Durch diesen Vertrag wurde dem Unternehmen allerdings formell der Charakter einer Aktiengesellschaft gewährt, aber der Schwerpunkt bildete doch die natürlich auch pekuniär am stärksten dabei beteiligte preußische Staatsregierung. Zur Leitung des Werkes wurde die Direktion der Berliner Stadt-Eisenbahn kreiert und ihr Chef wurde der Erbauer der Ringbahn, Regierungs-Baurat Dircksen.

Von den ungeheuren, besonders in den bestehenden Bauverhältnissen der alten Stadtteile liegenden Schwierigkeiten die dabei zu bewältigen waren, können wir an dieser Stelle nicht einmal eine Andeutung geben. Der Bau war beschlossen und auch manches, was unmöglich schien, musste durchgesetzt werden. Der Bau begann mit der Zerstörung, aber – ein neues Leben erwuchs aus den Ruinen.

In den letzten Jahren, seitdem der Bau von Monat zu Monat, von Woche zu Woche übersichtlicher und deutlicher das werdende Werk erkennen ließ, wurde die Phantasie des Berliners bis zur prickelnden Ungeduld durch den Gedanken gereizt: Wie wird sich von der Höhe dieser Bahn deine geliebte Stadt ausnehmen? Auch der alte Autochthone hielt sich überzeugt: du wirst da so manche Strecken durchfahren, auf denen dein Auge nie geweilt, so wenig wie auf den Straßen und Plätzen von Peking. Das ist denn nun auch buchstäblich eingetroffen. Nur freilich: von diversen dieser Teilstrecken zwischen den zehn Haltepunkten der Bahn lässt sich auch nicht mit einiger Sicherheit behaupten, dass die durchbrochenen Häusermassen mit ihren hässlichen Hofgebäuden, halb durchschnittenen Mauern, schmutzigen Gräben, Gartenstücken, Höfen, Maschinenwerkstätten, Kohlen-, Holz-, Wäsche- und anderen Plätzen besonders reizvolle Wanderbilder geben. Zuweilen könnte man allerdings wünschen, die Teufelsschöpfung „Eisenbahn“ zu verlassen, um unter Führung des Teufels selbst – nämlich Le Sage’s „Diable boiteux“ – hier und dort zu verweilen, und – wenn auch nicht durch die Dächer, so doch – in die Fenster zu sehen. Man würde dabei ohne Zweifel ebenso viel kuriose Dinge erfahren als jener Student unter der Führung des Asmodi aus den Häusern von Madrid. Da aber die Eisenbahnverwaltung, so kulant sie auch bisher bei Wünschen des Publikums gegenüber sich gezeigt, durchaus keine Neigung zu haben scheint, mit besonderer Bereitwilligkeit auf solche Nebenzwecke einzugehen, so müssen wir uns schon mit dem begnügen, was an den Fenstern selbst zu sehen ist. Und das waren in der ersten Zeit meist nur neugierige, zuweilen auch wohl ärgerliche Gesicher.

Indessen der Hauptreiz ist und bleibt die völlig veränderte Psysiognomie, welche auch die bekanntesten Teile Berlins annehmen, wenn man sie von diesem Längengrad, der zugleich auch ein Höhengrad ist, betrachtet. Es ist etwas Bekanntes und doch auch zugleich Fremdes, so dass des Berliners bekannte Neigung, das Fremde zu bewundern, sich hier mit seinem nicht minder starken Lokalpatriotismus sehr glücklich vereinigte. Über die Straßen, welche die Bahn durchschneidet, geht es allerdings meist zu schnell hinweg, als dass man von der „Aussicht“ viel profitieren könnte. Man reckt den Kopf, jetzt eine uns bekannte und interessante Straße mit schnellem, sicherem Blick zu überschauen, und hört zu seiner Verwunderung vom Nachbar, dass man dieselbe schon vor einer Minute passiert habe. Das befriedigendere Interesse erregen deshalb die Bahnhöfe mit ihrer nächtlichen Umgebung. Einmal lässt das hier etwas gemäßigtere Tempo des Zuges dem Fahrgast mehr Zeit, sich ein wenig umzuschauen; sodann sind die Bahnhöfe meist an solchen Punkten der Stadt angebracht, welche dem Blick eine weitere Aussicht gestatten.

Der östliche Endpunkt der Bahn, die Halle am Schlesischen Bahnhof, ist im Bau noch am weitesten zurückgeblieben, und für die ersten Monate des Betriebes musste man sich mit einem dürftigen Notperron begnügen. Auch die ganze Strecke von hier bis zum nächsten Haltepunkt zeigt vorzugsweise die Schattenseite Berlins, welche oben kurz charakterisiert worden ist. Nur ein paar lange Straßen in der Nähe des Bahnhofs, über welche die Züge hinwegbrausen, bezeichnen wenigstens die ungeheute Ausdehnung der Stadt.

Angenehmer wird das Bild vor dem nächsten Haltepunkt, der den Namen von der zunächst gelegenen Jannowitzbrücke führt. An dieser Stelle musste auf eine bedeutende Strecke längst dem nördlichen Spreeufer der Viadukt im Strombett selbst erbaut werden, so dass man sich sogar den Luxus gestattete, die Breite des Flusses einzuschränken.

Von dem Bahnhof „Jannowitzbrücke“, an dem Vereinigungspunkt der Alexander- und Holzmarktstraße, hat man für etwa eine halbe Minute einen freien Blick über den Spreeverkehr und die nächste Umgegend. Hier, wo zur Sommerzeit die Spree die zahlreichen Vergnügungsfahrzeuge nach Stralau und Treptow aufnimmt, fühlt man sich schon inmitten des bewegten Geschäftslebens der Stadt. Über die von Menschen durchwogten Straßen hinweg sieht man die Spree, um welche sich die zahlreichen Tuchfabriken und Färbereien gelagert haben. Hinter den nächsten Straßenhäusern zeigt sich der Turm der Waisenhauskirche, weiter zurück der Turm des Rathauses; rechts davon der der Parochialkirche mit seinem Glockenspiel, und von links ragen die beiden scharfen Spitzen der vor einigen Jahren schön restaurierten Nicolaikirche. Für diejenigen, welche aus dem Westen und Nordwesten der Stadt die Bahn frequentieren, hat – beiläufig bemerkt – die Station Jannowitzbrücke noch die edle Bestimmung, den Besuch zweier, nur fünf Minuten davon entfernten Theater zu erleichtern: des Wallner- und des Residenz-Theaters. Da die Leser zu meinem Bedauern augenblicklich keinen Gebrauch von dieser verlockenden Gelegenheit machen können, mögen sie faute de mieux auf der Bahnstrecke fahren, welche den langen Häuserkomplex zwischen der Alexander- und Neuen Friedrichstraße in nordwestlicher Richtung durchschneidet. Hier hat man nach links wohl zuweilen enge Durchblicke, welche die in der Neuen Friedrichstraße gelegenen Gebäude einigermaßen erahnen lassen: so die Hinterhäuser des Gymnasiums zum „Grauen Kloster“, des ältestens Gymnasiums in Berlin, und des Lagerhauses; aber über alles hinweg als ein Riese ragt wiederum der breite Turm des Rathauses, welcher in der Tat als ein Wachturm für ganz Berlin erscheint. Sowohl sein kräftiger Körperbau, wie die ihn zierende Farbe der Gesundheit lassen hoffen, dass er diese ehrenvolle Bestimmung noch ungezählte Jahrhunderte unentwegt und unerschüttert erfüllen werde.

Kaum haben wir von ihm den Blick gewendet, so sehen wir plötzlich ein gewaltiges Leben von allen Seiten uns umfluten. Wir sind an einem Hauptverkehrspunkt des „alten Berlins“ angelangt: an der Station Alexanderplatz. Es ist dies wohl die interessanteste Stelle der ganzen Stadtbahn. Ausgezeichnet durch einen gewissen malerischen Reiz und ebenso reich an vollem Leben der Gegenwart wie an Erinnerungen, welche in die Vergangenheit, bis in die „gute alte Zeit“ zurückreichen. Selbst der Fremde, welcher die Bahn nur befährt, um sie kennen zu lernen, sollte über diesen eigentlichen Mittelpunkt der inneren Stadt nicht so schnell hinwegeilen, sondern, um das reichlebendige Gemälde von der die ehemalige „Königsbrücke“ überkreuzenden Bahnbrücke recht zu genießen, hier aussteigen und den nächsten Zug zur Weiterfahrt benutzen. Nach südlicher Richtung sieht man die ganze alte Königstraße hinauf bis zum Schlossplatz. Das volle Bild dieser stärksten Verkehrsader des alten Berlins erhält jene malerische Einfassung durch die alten Colonnaden, jenen zopfigen Bau (von A. Boumann) aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, dessen Architektur aber durch die Bildwerke von Tessaert einen eigenen Reiz erhalten hat. Hinter der linken Seite dieser Colonnaden war lange Zeit das volkstümliche Vergnügungslokal „Villa Colonna“, in noch früherer Zeit „Faust’s Wintergarten“.

Das alles muss nun mehr und mehr den baulichen Bedürfnissen der Gegenwart zum Opfer fallen. Es wäre aber sehr bedauerlich, wenn man nicht wenigstens die Colonnaden selbst erhalten könnte. Die alte Königsbrücke wurde durch die Stadtbahn überflüssig; das trübe Wasser, welches darunter sich sehr langsam fortbewegte und aus welchem einige sonderbare Schwärmer noch sonderbarere Fische zu angeln pflegten, dieser sogenannte „Königsgraben“ musste für die Stadtbahn in festen Grund und Boden umgewandelt werden. Die Trockenlegung dieses von der Straualuer Brücke bis nach Monbijou die alte „Königsstadt“ im Halbkreis umschließenden Grabens war allein schon eine gewaltige Aufgabe: seine Ausfüllung und Befestigung erforderte gegen 100.000 cbm Mauerwerk.

Die Passage der ehemaligen Königsbrücke, eines der lebhaftesten Verkehrspunkte Berlins, bildet jetzt mit ihrer Überbrückung durch die Stadtbahn ein fesselndes Ensemble großstädtischen Lebens, mit seinem neben- und übereinander sich fortbewegenden Gewühl von Menschen und Fuhrwerken dem imposanten Straßenbilde von Ludgate-Hill in der Londoner City nicht viel nachstehend.

Wendet man, der alten Königstraße den Rücken kehrend, den Blick vorwärts, so übersieht man den ganzen Alexanderplatz. Hier münden nicht nur ein halbes Dutzend der volkreichsten und gewerbtätigsten Straßen, hier ist auch die Endstation für zwei Pferdebahnlinien und dazu noch ein überaus lebhafter Marktverkehr. Rechts erkennt man noch flüchtig die in einfachem aber edlem Stil gebaute Hauptfassade des ehemaligen „Königstädter Theaters“, seinerzeit für Oper und Schauspiel ein Mustertheater, wie Berlin seitdem kein ähnliches wieder erhalten hat. Es stimmt wehmütig, wenn man jetzt den Blick auf dies Gebäude richtet, und dort, wo einst Henriette Sontag, Spitzeder, Schmelka, Beckmann und andere ihre Glanzzeit hatten, nur noch die riesigen Schilder für Woll- und Tuchlager, Mäntelfabrike usw. sieht. Gegenüber aber steht unversehrt das alte breite, in goldenen Buchstaben die Aufschrift „Zum Kaiser Alexander“ tragende Haus, wo vielleicht in alter Zeit die „neue Weinstube“ war, in welcher E.T.A. Hoffmann eine seiner drolligsten Spukgeschichten beginnen lässt. In der nächsten Straße befindet sich ein anderes Haus, ausgezeichnet durch eine noch bedeutsamere und ältere Reminiszenz: das Haus Nr. 10 in der ziemlich stillen Seitenstraße, die den Namen „Zum Königsgraben“ führt. Dieses Haus hat über dem Eingangstor eine hübsche Büste Lessings, vor Jahren hier von dem Verein für die Geschichte Berlins gestiftet; und die unter der Büste befindliche Tafel trägt die Inschrift „Lessing dichtete hier Minna von Barnhelm, 1765“.

Nachdem wir diese Umschau gehalten, steigen wir die bequemen Treppen zum Bahnhof wieder hinauf. Der Zug von Osten kommt eilig herbei; er hält in der riesigen Halle, und nach einer Minute fahren wir weiter gen Westen, an dem alten Getreidemagazin hart vorbei, dann über die alte Rochbrücke hinweg, die das Privilegium hatte, für ihre Verbindung der Münz- und Neuen Friedrichstraße den Passanten den alten Berliner „Sechser“ abzunehmen, ein Privilegium, über welches jedoch die Fahrgäste der Stadtbahn sich lachend hinwegsetzen. Die nächste Station „Börse“ ist schon in zwei Minuten erreicht. Der nicht so große, aber sehr gefällige Bahnhof liegt zwischen der Spandauer Brücke und Monbijou. Das Börsengebäude selbst bleibt vorläufig unserem Auge verborgen.Dafür erhalten wir aber sogleich nach dem Verlassen der Bahnhofshalle einen interessanten Überblick über die den Lustgarten umgebenden Gebäude. Zunächst über die Herkulesbrücke hinweg reicht unser Blick bis zu dem Schlosse; dann sausen wir an dem eigentlichen „Spree-Athen“, an den Museen und der Rückseite der Nationalgalerie vorüber; gelangen, kaum dass wir’s gewahr werden, auf einer massiven Brücke hinüber zum anderen Spreeufer, wo dann auch alle Herrlichkeit im Nu wieder verschwunden ist. Nachdem wir den schmalen Kupfergraben übersprungen haben, ist die Bahnhlinie eine kurze Strecke lang wieder zu beiden Seiten von Häuserreihen eingeschlossen. Da aber heißt es plötzlich: Augen links und gleichzeitig Augen rechts! Wir passieren die große Friedrichstraße, welche man hier in ihrer ganzen Ausdehnung nach Norden und nach Süden überblicken kann. Das gewährt namentlich des Abends durch die unabsehbaren Linien der Gaslaternen ein imposantes Schauspiel. Nur schade, es verschwindet so schnell – schneller als ein Meteor. Gleich auf der anderen Straßenseite fahren wir in die großartige Halle des Bahnhofs „Friedrichstraße“ ein. Die Halle dieses Zentralbahnhofs ist in gleichem Stil und in fast gleichen Größenverhältnissen gebaut wie der Bahnhof „Alexanderplatz“.

Beides sind die großartigsten Hallen der Stadtbahn, und auf beiden ist auch die Frequenz die weit überwiegend stärkste. Stets ist der Besuch eines dieser großen Bahnhöfe von eigenartig fesselndem Reiz. Die schönen Vorräume im unteren Teil, wo auch die Billetschalter sich befinden, die weiten und schönen Aufgänge mit bequemen Treppen, dann die Halle selbst, die mit einem riesigen Tonnengewölbe aus eisernem Sparrwerk überdacht ist und besonders abends durch das elektrische Licht einen beinahe feierlichen Eindruck macht. Dazu die fortwährend an- und abfahrenden Passagiere, dazwischen die soliden Zeitungsverkäufer, die sämtliche unter der Direktion eines einzigen Unternehmers stehen und ebenso billig wie höflich sind – kurz, das alles stimmt so trefflich zusammen und greift so glatt und ruhig ineinander, dass es vollkommen begreiflich erscheint, wenn der Berliner die Stadtbahn in ausgedehntem Maße zu Vergnügungsfahrten benutzt. Und die Art der Benutzung wird im Sommer immer allgemeiner werden, besonders nach den westlichen Stationen, die schon vom Lehrter Bahnhof ab außerhalb der Stadt liegen.

Die Strecke von „Friedrichstraße“ bis „Lehrter Bahnhof“ führt zunächst beim Schiffbauerdamm mittels einer genial konstruierten Brücke wieder auf das nördliche Spreeufer hinüber, und nachdem sie die Luisenstraße und äußere Karlstraße durchschnitten hat, wird sie durch einen lang sich hinziehenden und freistehenden Viadukt zum Lehrter Bahnhof geleitet. Nachdem man beim Zellengefängnis, bei der Ulanenkaserne usw. vorüber durch Alt-Moabit gefahren, tritt die grüne Landschaft immer mehr in ihre Rechte. Zunächst bietet „Bellevue“ am südlichen Spreeufer mit den schönen Parkanlagen einen angenehmen sommerlichen Ruhepunkt. Dann durch die an Alt-Moabit sich anschließenden, zum Teil eben erst angelegten Straßen hindurch setzt die Bahn in der Nähe der königl. Porzellanfabrik über die in gerader Linie nach Charlottenburg führende Hauptallee des Tiergartens, um an der nächsten Station „Zoologischer Garten“ ein starkes Kontingent von Passagieren abzuliefern.

Der Besuch dieses Vergnügungsparks, der ohnedies beim Berliner Publikum sich besonderer Beliebtheit erfreut, wird durch die Stadtbahn noch sehr gesteigert werden, da jetzt die Bewohner selbst der am weitesten nach Osten gerückten Stadtteile das früher in nebelgrauer Ferne liegende Ziel ihrer Sehnsucht in wenigen Minuten erreichen können. Der Bahnhof liegt an der hinteren (westlichen) Seite des Gartens, aber die Verwaltung hat schleunigst die Einrichtung getroffen, dass an Sonn- und Concerttagen das Publikum auch von dieser – sonst unzugänglichen – Seite Eintritt erlangen kann.

Weniger günstig erweist sich die Bahnverbindung für die beiden noch weiter nach Westen liegenden Stationen Charlottenburg und Westend. Da namentlich der Charlottenburger Bahnhof sehr weit entfernt vom Orte liegt, so wird für die Besucher des Schlossparkes mit dem Mausoleum die bestehende Pferdeeisenbahn nichts von ihrem Ansehen verlieren. Es ist aber neuerdings schon der Plan gefasst, von diesem entlegenen Bahnhof aus noch eine Zweigbahn anzulegen, welche bis zum Mittelpunkte von Charlottenburg führen soll.

Dass überhaupt die Stadtbahn nicht auf der ganzen Strecke gleichmäßig stark frequentiert werden würde, war leicht vorauszusehen. Nach der Zahl der verkauften Billets stehen voran die drei Stationspunkte Schlesischer Bahnhof, Alexanderplatz und Friedrichstraße (und zwar in aufsteigender Zahl). Sobald der vollständige Kursplan inklusive aller Verbindungen mit den großen in Berlin mündenden Eisenbahnlinien ins Leben getreten sein wird, mag die Verkehrsstatistik wohl noch weitere Veränderungen ausweisen. Im Allgemeinen wird das Verhältnis bleiben, wie es jetzt ist: der Lokalverkehr wird eben stets die weit überwiegende Masse von Passagieren liefern. Bereits in den ersten Monaten ist dieser Lokalverkehr ein so großer geworden, wie man ihn wohl kaum erwartet hatte. Und auch diejenigen, welche von vornherein beim großen Unternehmen gegenüber sich sehr skrupulös verhalten haben, tragen bereits mit Vergnügen zur Prosperität desselben bei. An den Sonntagen sind bisher je 50.000 bis 60.000 Billets ausgegeben worden, häufig noch mehr, so dass die vorhandenen Beförderungsmittel, obwohl man sie mit dem gesteigerten Bedürfnis nach Möglichkeit vermehrte, so unzureichend blieben. Auch für die Wochentage gilt die Durchschnittszahl von 15.000 Billets eine ganz ansehnliche.

Nach dem bisher bestehenden Fahrplan, in welchem noch nicht der ganze externe Verkehr aufgenommen werden konnte, gehen auf der Stadtbahn täglich von Ost nach West und von West nach Ost je 102 Züge, so dass also nach beiden Richtungen hin täglich sich 204 Eisenbahnzüge bewegen. Für die Sonntage – das stellte sich schon bei der ersten Fahrt heraus – konnten die nur alle zehn Minuten gehenden Züge, wenn man auch die Wagenzahl beträchtlich vergrößerte, dem Bedürfnis keineswegs genügen. Man hatte deshalb für alle Festtage noch dreißig Extrazüge eingelegt, um die Masse der harrenden Fahrgäste expedieren zu können.

Damit die für den externen Verkehr bestimmten Züge mit dem so großartigen Lokalverkehr nicht kollidieren, so hatte man von vornherein bei der Anlage der Bahn ein bloß doppeltes Geleise als ungenügend erkannt und die ganze Bahnstrecke, deren Länge über 11 km – also etwa anderthalb geografische Meilen – beträgt, mit vier Geleisen ausgestattet. Erst allmählich wird die Einrichtung in ihrer ganzen geplanten Vollständigkeit zur praktischen Verwendung kommen. Wir haben aber jetzt schon an der Stadtbahn-Verwaltung die erfreuliche Erfahrung gemacht, dass dieselbe allen aus dem Publikum und der Presse lautwerdenden Wünschen so viel als möglich nachkommt und so haben die Erfahrungen in den ersten Monaten schon eine Menge erheblicher Verbesserungen herbeigeführt.

Mehr und mehr werden auch die solide aus Ziegelsteinen gemauerten Bogen, welche durch die Pfeiler der Viadukte gebildet werden, zu industriellen Zwecken verwertet. Die ersten segensreichen Institute, die sich ihrer bemächtigten, waren die Bierbrauereien. Schon lange vor Vollendung der Bahn hatte sich in der Luisenstraße die Moabiter Brauerei unter dem Titel „Zum Kyffhäuser“ unter fünf solchen Stadtbahnbogen etabliert und in altdeutschem Stile ein vielbesuchtes Bierlokal hergestellt. Noch größer und auch eleganter ist das Etablissement „Zum Franciscaner“ an der Kreuzung der Friedrich- und Georgenstraße. Wie vielseitig aber diese Stadtbahnbogen zu verwenden sein werden, das sehen wir schon jetzt am Lehrter Bahnhof, wo der bedeutende Bauplatz der Mitte Mai eröffneten hygienischen Ausstellung an den Stadtbahn-Viadukt sich anlehnt.

Ob bei den ungewöhnlichen hohen Kosten der Stadtbahn – sie belaufen sich auf nahezu 70 Millionen Mark – von einer Rentabilität wird die Rede sein können? Das zu erforschen oder darüber zu mutmaßen und zu prophezeihen, möge anderen überlassen bleiben.

Jedenfalls ist dieser großartige Bau der Neuzeit schon jetzt für den Berliner ein nützliches und angenehmes Verkehrsmittel, für den Fremden eine der hervorragendsten Sehenswürdigkeiten der Reichshauptstadt geworden. Der Nachweis ihrer strategischen Bedeutung möge aber noch recht lange auf sich warten lassen.

H. Rudolf

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