Von der Sandkrug- zur Marschallbrücke

Robert-Koch-Platz

Grenzgänge VIII

Die Sand­krug­­­brücke zittert. Die kurzen Schwingungen sind Zeitzeichen. Solange die Brücke so zittert, ist Berlin nicht geteilt. Auf dem weißen Stein zwischen den Zierpfeilern ist zu lesen: Grenzübergang Invalidenstraße 1961-1989, aber jeder sagte: Sandkrugbrücke.
Der Sandkrug war eine Wirtschaft mit Garten an der steinernen Brücke. Jetzt ist die Brücke das Zentrum einer großen Baustelle. Ich zähle 15 Kräne, 6 Bagger, 12 Schilder von Baufirmen. Vom Wirtschafts-Ministerium staubt Schutt krachend durch die hell- und dunkelgrünen Gliederrohre in die blauen Container. Das Wirtschafts-Ministerium entsteht hinter einer Fassade von Barock-Imitat.
„Früher: Regierungskrankenhaus“ schreibt die Baudirektion auf dem Bauschild, weiter als bis zur DDR reicht die Erinnerung nicht. Die Fassade wirkt auf mich als ein Kommentar. Das Wirtschafts-Ministerium einer Welt-Wirtschaftsmacht: abgekehrt von der Moderne, umkleidet von Scheinbarkeit.

Daneben der Hamburger Bahnhof, der nur eine kurze Zeit wirklich ein Bahnhof war. Die schwarz-grünen Fahnen auf seinen modernisierten Türmen kündigen keineswegs Anarchie an. Drinnen ist alles gut arangiert, das Gebäude ist eine Sehenswürdigkeit, licht und schön, der Inhalt nennt sich „Museum der Gegenwart“, aber nichts ist hier wirklich Gegenwart; Kunst-Stücke, die sich im Besitz eines Baulöwen überlebt haben und jetzt komisch wirken; die 10 „Portraits“ von Immi Knoebel, die es mir angetan haben, sind nicht mehr da, der Uniformierte unter dem Schild „Information“ zuckt mit den Achseln. „Die hier sagen doch unsereinem nüscht“. Das ist die 8 Mark Eintritt alleine wert: Anspruch und Wirklichkeit; im Hamburger Bahnhof macht ein Geschäftsmann Geschäfte mit Hilfe des Staates, das passt in die Nähe des Wirtschafts-Ministerium.

Ich suche das Alexanderufer. Es heißt seit 1856 mach Alexander von Humboldt. Mehr als 1.000 Straßen, Plätze, Gewässer, Berge, Pflanzen, Tiere, Minerale, sogar Teile des Kosmos heißen nach ihm. Das Alexanderufer ist fort. Ohne Hinweis. „Fußgänger verboten. Vor Einfahrt beim Pförtner melden“. Wo ist hier ein Pförtner?
Als die Mauer gefallen war, konnte man auf dem Asphaltweg der Grenzschützer lange zivile Wege gehen. Diesen Weg hätte man erhalten sollen. Das wäre ein lebendiges Denkmal gewesen.

Auf dem Robert-Koch-Platz blühen die Kastanien, Robert Koch sitzt weiß auf seinem Denkmal, er sieht wie ein Mönch aus, die Texte sind kämpferisch, der Arzt wird ein Führer im Kampfe genannt, gegen Seuchen, Viren, Bakterien.
Der Platz wirkt heftig und laut. Auf der einen Seite Baustellen, Kräne, Bagger, Betonmischmaschinen. „Der Betonknacker ist da“ steht auf einem Auto; nach der anderen versucht er historisch zu wirken, die Bundesärztekammer hat die Kaiserin Friedrich wieder golden angeschrieben an das Haus, in dem unten die Ärztebank amtiert.
Wogegen wird heute gekämpft? Gegen den Verfall? Gegen die Vergangenheit? Gegen das Nichts? Gegen die Zeit. „Leute los! Macht ran! Die Zeit läuft uns weg!“ ruft der Polier.

Die Straße, die durch den Platz läuft und dann durch die ganze Charité, heißt Luisenstraße, nach einer schönen Königin, der die Geschichte eine politische Bedeutung angedichtet hat, die sie nicht besaß. 20 Jahre hieß sie nach einem sozialdemokratisch-kommunistischen Funktionär; die eine Geschichte gilt, die andere gilt nicht, unsere Geschichte sind beide nicht.
Vorbei am Langenbeck-Haus. Wer weiß noch was von Langenbeck? „Die bildschöne Herrenreiterin Carola Renz war abends im Zirkus gestürzt und wurde sterbend in unsere Klinik gebracht. Als nun dieses schöne Haupt geöffnet werden sollte, stellte sich heraus, dass kein Wärter vorhanden war, welcher der schweren Arbeit des Rundherum-Aufsägens des Schädels gewachsen gewesen wäre. Also musste Friedländer, der Gelehrte, selbst heran. Es misslang. Auch Israel blamiert sich. V. Langenbeck war kribbelig geworden, schüttelte das Haupt: ‚Aber meine Herren! Von der Pike dienen! Von der Pike an!‘ Nahm die Bogensäge und mit ungemeiner Akkuratesse und einer technischen Meisterschaft hob er die durchsägte Schädeldecke von der durchbluteten Hirnhaut ab“. Der Bestseller, in dem das steht, heißt „Besonnene Vergangenheit“, in den 20er Jahren erschienen, Carl Ludwig Schleich, ein Thema für sich.

Die Luisenstraße geht tatsächlich durch die Vergangenheit. Auch die Neubauten der Charité wirken merkwürdig historisch. Hier hatte die Medizin früher als anderswo einen industriellen Höhepunkt erreicht, die Medizin der Anstalten, der Sanitätsburgen, die großen Ärzte, die großen Generäle, die Kämpfer, wir anderen das Menschenmaterial.
Die Marschallbrücke am Straßenende ist nur noch ein schmaler Fußgängersteg mitten in einer heftigen Baustelle. Die Uferstraßen versperrt. „Durch die Baumaßnahmen unterliegen die Mieter großen Belästigungen. Das betrifft jetzt auch den Müllbereich“. Regierung und Parlament machen sich breit. Ich will ein Stück näher ans Wasser. „Baufeldfreimachung“ steht auf dem hohen Schild.
„Halt! Verboten!“
„Warum?“
„Sehn Sie doch!“
„Ist das keine Straße mehr?“
„Nicht für Sie.“

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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