Von Herzog zum Adlon

Wenn ich mich recht erinnere, sprach er über das Gewissen. Antrittsvorlesung an der FU Berlin. Später sagte mein Verleger, der Professor habe gesagt, die Studenten sollten ruhig noch ein bisschen demonstrieren und den Lehrveranstaltungen fern bleiben, dann bleibe er selbst auch fern und könne das Staatsrechts-Lehrbuch noch rechtzeitig zuende schreiben. Heute schreibt er nicht über Staatsrecht, heute macht er Staatsrecht. Ist Bundespräsident. Sitzt in einem Schloss. Macht seine Sache gut, und ist kein Heuchler. Aber geht er zu Fuß?
Weiß der Bundespräsident, was zwischen Reichstag und Bellevue, zwischen Adlon und Bundesschloss passiert? Es ist ein Zwischenort in einer Zwischenzeit, in rascher Veränderung. Da müsste man jeden Tag auf und ab gehen. An den kleinen Veränderungen würde man die großen erkennen.

Wir haben die Zeit nicht, die Geschichte zu erleben, zu der wir später gehören werden. Wir hier unten noch eher als Professor Herzog dahinten, der es zu einer Marginalie bringen wird in den ganz genauen Büchern. Er hat wahrscheinlich viel nachzuholen, wenn er das Amt los ist, da muss er erst mal gucken, wo er überall gewesen ist. Vielleicht fährt er dann auch mal mit der S-Bahn hierher – wie ich jetzt -, steigt aus dem Bahnhof Bellevue, der gerade neu eingekleidet ist, und geht den schönen Uferweg an der Spree entlang. Man kann die Touristeninstrukteure hören, wie sie auf den Pleasure-Boats die Mauer erklären, hinter der der Herr Herzog jetzt noch wohnt und dann ein anderer, wenn er in Freiheit ist.
Ich ziehe mein Notizbuch hervor, um zu notieren, dass ich in dem Schloss sogar ein Stück der Kreissparkassen-Treppe sehe, die wohl unter Lübke reingekommen ist, dessen Frau so tat. als ob es ihr privates Haus sei. Da sind die beiden Grenzschützer schon heran.
„Was schreiben Sie denn da?“ fragt mich die junge Frau in der Uniform des Bundes, das Panzermützchen keck über den Ohren. Wie ich es die Studenten lehre, frage ich zurück:
„Wo ist die Anspruchsgrundlage für diese Frage?“
Das versteht die sympathische Polizeimeisterin nicht.
„Ich habe Ihnen doch eine ganz normale Frage gestellt. Sie brauchen nur zu sagen: Ich schreibe was ganz Privates, dann ist die Sache erledigt.“ Die Polizisten sehen nicht ein, dass sie mir auch keine „normalen Fragen“ stellen dürfen, auf die ich antworten müsste. Sie sind aber sehr freundlich. und wirken aufgeschlossen. Die jungen Leute sind in Ordnung, nur ihre Ausbildung scheint nicht in Ordnung zu sein.

Am Eingang I zur Baustelle Bundespräsidialamt wird zweimal vor dem Hunde gewarnt, der auch pflichtgemäß hervorkommt, als ich stehen bleibe. Am Drahtzaun gibt es in zwei Sprachen Informationen. Die Idee ist lobenswert (Inhaltlich gäbe es Kritik: das presseamtliche Faltblatt redet das Beton-Ei, das da im Tiergarten hinter schwarzen Fassaden entsteht, architektonisch hoch und vergisst zu erwähnen, dass der Neubau im büroraumreichen Berlin überhaupt überflüssig war). Ich gehe an dem grauen Betonskelett vorbei über den Trampelpfad zu dem monstösen Bismarck hinüber, während der Schäferhund mich an der Innenseite des hohen Drahtzauns aufmerksam verfolgt. Zur Siegessäule, der er mit seinem Bestarium gegenüber steht, sieht der hochbrüstige Bismarck, in dessen Rücken Herzogs Hund nun zurückbleibt, gar nicht hin.
Die Gold-Else auf der Hurra-Säule blickt auch nicht herüber, sondern nach Westen mit gesenktem Blick; niemand hat ihr beigebracht, dass die Franzosen im Westen nicht mehr unsere Erzfeinde sind.
Die jungen Leute, die zu Füßen der Jungfrau auf den breiten Stufen lagern, wollen vielleicht gar nichts erklärt haben über die goldenen Kanonenrohre, unter denen sie hier die Sonne genießen; bis zu den Vorfahren, die mit diesen Kanonen erschossen worden sind, reichen die Familienerinnerungen meist nicht zurück. Die meisten kennen nicht einmal die Geburtstage ihrer Großeltern.
Ein Japaner fotografiert seine Frauen in Elses Säulenkolonnade, seinen Sohn zu Füßen Bismarcks, der die Welt gerade abgeschossen hat wie einen Fußball; er sieht ihm nicht hinterher, so dass ihm entgeht, wie darunter auch der stärkste Mann zusammenbricht. Auf der Westseite des Großen Sterns formieren sich 9 Wannen, 4 Polizisten auf Motorrädern, 3 Streifenwagen. Martinshörner sind von Ferne zu vernehmen. Jetzt fällt mir auf, dass ich überhaupt keine Privatautos sehe. Der Platz ist abgesperrt, die Straße des 17. Juni offenbar auch. Was ist los? Weiter unten fragt einer, den man, wie er so bräsig auf seinem Fahrrad sitzt, einen typischen Berliner heißen könnte:
„Wass issn hier los, Demo oder was?“
Der freundliche Polizist mit der Haltekelle ist kommunikationsbereit:
„Hanf-Parade. Wissen Se: det Zeuch, wo man Rauschgift draus machen kann. … Un der Mann aus dem Schloss soll ooch unterwegens sein.“
„Dehn würd ich doch inn Arsch haun. Es jibt so vielle Leute, die sich nicht bewejen könn, die sollten se mal inn Rollstuhl rumschiehm, jutet Werk tun!“
„Machs du aber ooch nich“, sagt da seine Frau mit leiser Stimme und erweist sich damit auch als eine echte Berlinerin. Ab, Richtung Wedding.

Ich gehe in Richtung Reichstag weiter, durch den Tiergarten, über Rüstern-, Kastanien-, Platanenallee. Rechts und links grillende Familien, von den Müttern in sorgfältiger Ordnung gehaltenes multikulturelles Großstadtszenario.
Ich verweile auf den Stufen des sowjetischen Ehrenmals, das in westberliner Zeiten dicht bewacht war und jetzt trotz seiner Panzer und Kanonen nicht anders aussieht als die Bismarck- und Moltke-Postamente weiter hinten.
Ich sitzt auf der Nordseite, auf der man die kyrillischen Namen von Männern lest, die hier noch Ende April 1945 ihr Leben lassen mussten. Diese hier wenigstens auf der richtigen Seite. Aber tot ist tot. Da nützt keine Richtigkeit.
Vor dem Denkmal friedliche Blumenrabatten. Ich steige über die tiefhängenden Zierketten und werde nun ostwärts mitgenommen zur „Hanf-Parade“, die sich als ein ganz normales Bratwurstfest darstellt, am Bonner Platz in Buden, die in ein potemkinsches Rothenburg gekleidet sind.
Den Platz, den ich hier nach unserem populären Vorschlag Bonner Platz nenne, will die BVV Mitte nach den Märzgefallenen von 1848 nennen, wohl um den 17. Juni, der der breiten Allee den Namen gibt, geschichtlich ein bisschen einzuebnen. Diese Benennung ist nicht populär, auch im Stil nicht zeitgemäß. Aber die Namen der Straßen und Plätze gehören der classe politique, nicht dem Volk.

Wo Liebermanns Haus stand, komme ich auf den Pariser Platz. An dieser Stelle ist jetzt ein Haus fast fertig, das sich Liebenmanns Namen nur umhängt. Der Zeitgeistarchitekt Kleihues ist eher in Albert Speers als in Liebermanns Nachfolge geraten. Auch das alte Liebermann-Haus war aber nicht wegen des Hauses berühmt, sondern wegen des Bewohners.
Schräg gegenüber das Adlon hat – wie ich später im TV sehe – gerade den Bundespräsidenten zu Gast. Hoffentlich hat dieses Imitat seiner selbst auf die Dauer genug zahlende Gäste. Das Adlon der Postmoderne. Immerhin schön, dass es da ist.
Schön, dass wir hier sind, wir alle, Hanf-Parädler, Touristen, der ordentliche Bundespräsident, der alte Walter Jens, der nachher drinnen seine Lesefrüchte ausbreitet, und meinesgleichen, die niemals dachten, dass sie sich in ihrem Leben noch mit den Problemen beschäftigen dürften, die es jetzt auf dem Pariser Platz zu besprechen gäbe.
Bei Dressler, der auch Unter den Linden, wo es an Kaffeehäusern fehlte, eines aufgemacht hat, beginne ich, bei Milchkaffee aus zwei getrennten Töpfen – wie es hier die Spezialität ist – diesen Text zu schreiben: Von Tiergarten nach Mitte, immer mitten durchs proteische Berlin.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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