Die Faust von Köpenick

Ich lebe seit 1961 in Berlin. Ich fühle mich immer noch nicht als Berliner. Für das vorige Kapitel bin ich wie ein Tourist durch die Stadt gewandert. Da habe ich mich vielleicht versehen. Gestern bin ich deshalb denselben Weg noch einmal gegangen. Der Zufallsweg des sonnigen Oktober erweist sich im grauen November als ein aufschlussreicher Spaziergang. Er führt direkt durch die jüngste deutsche Geschichte. In einem früheren Leben war ich auch Richter. Ich besuche die Gedenkbüste für Rudolf Mandrella vor dem Amtsgericht mit kollegialen Gefühlen. Die meisten deutschen Richter haben die deutschen Staatsverbrecher unterstützt. Einige nicht. Wegen dieser wenigen ist es möglich, heute noch Richter in Deutschland zu sein. Es sollte eine kleine Bank aufgestellt werden neben Mandrellas strenger Büste, damit im Schutz des Lorbeers Liebespaare sich umarmen und müde deutsche Richter über ihren Beruf nachdenken können. Ich weiß nicht, ob das Grün um Mandrella Lorbeer ist. Der Anrufer wusste es auch nicht, der sich darüber beschwerte, dass ich die Stelle gelobt statt kritisiert hatte; das Grünflächenamt hält die Bewachsung nicht niedrig; die Leute pissen im Schutze des Grüns gegen die Stele des Helden. Ich überquere die Werner-Seelenbinder-Straße. Seelenbinder steht nicht im Brockhaus, habe ich geschrieben. Im DDR-Brockhaus steht er aber doch, habe ich zu hören bekommen. Aber die DDR gibt es nicht mehr, und ein „DDR-Brockhaus“ ist kein aktuelles Buch. Auch die Gedenktafel ist nicht aktuell. Sie sagt nichts über die sportlichen Siege. Das müssen die Sportler wissen. Sie müssen sich sagen können, wie ich bei Mandrella: Die meisten haben mitgemacht und Hurra geschrieen, einige nicht. Wegen dieser wenigen kann man Sportler sein in diesem Lande.

Ich wisse wahrscheinlich nicht, fragte mich eine Anruferin rhetorisch, was der 23. April bedeute. Doch, sagte ich, ich weiß es: Die Sowjetarmee ist angekommen in Köpenick an diesem Tag vor 51 Jahren. Nein, sagte die Anruferin, sie ist nicht angekommen, sie hat uns befreit. Ja, sage ich, aber ich habe die Sowjetarmee in Thüringen erlebt, dort folgte sie der US-Army, uns haben die Amerikaner befreit. Nein, sagt die Anruferin, die US-Amerikaner waren niemals Befreier. „Sondern?“ Befreier allenfalls von der einen Unterdrückung, um eine andere einzuführen: Kapitalismus statt Nationalsozialismus. Hat es in Köpenick keine Nazis gegeben, die immer da gewesen sind und von denen uns niemand befreite? Wir hätten uns selbst befreien müssen. Die Anruferin verwies mich auf die armen Opfer der Blutwoche. Das Denkmal auf der Wiese des 23. April habe ich ganz falsch verstanden, stellt ein Dritter fest. Ich hätte mich sachkundig machen müssen, ermahnt er mich mit strenger pädagogischer Konsequenz. Nun betrachte ich das Denkmal Walter Sutkowskis wie ein Schüler, der befürchten muss, dass ihn falsche Gefühle befallen. Ich fröstle. Die Betonwand bedroht mich. Ich verkenne die Faust. Ich bin mehr als 25 Jahre Sozialdemokrat. Diese Partei hat mir nicht beigebracht, dass Fäuste unterschiedliche politische Gesten ausdrücken können. Die Daumenhaltung ist wichtig. Das wusste ich nicht. Ich bedenke es jetzt. Das Denkmal wird dadurch nicht klarer und nicht schöner. Ich fürchte immer noch, dass die Faust niedersausen und mich zerschmettern will. Es stimmt nicht, dass die Opfer der Blutwoche durch die DDR belohnt worden wären. Sie sind umsonst gestorben. Die Täter haben überlebt. Denkmäler helfen nicht. Einsicht hilft, Reue, Entschuldigung, Vergebung.
Mitten im Novemer blüht auf der Wiese des 23. April ein Strauch. Ich weiß seinen Namen nicht. Da musst du das Grünflächenamt fragen, sagt ein Kollege.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Orderinchaos, CC BY-SA 3.0

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