Keine Parzelle des Himmels

Was bedeuten Straßennamen für die, deren Wohnungen sie betreffen? Ich wohne in einer Straße, die nach einem ehemaligen Landrat von Teltow benannt ist; der Mann bedeutet gar nichts für mich, kaum weiß ich, wer er war. Geht es der jungen Frau genauso, die ich mit ihrer kleinen munteren Tochter inmitten der hohen Wohnblocks der Salvador-Allende-Straße von der Kita nach Hause gehen sah? Oder der alten Frau, die mich an der Ecke Pablo-Neruda-Straße freundlich fragte: „Wohin wollen Sie denn?“, als ich die Fassaden auf- und absah, um herauszufinden, ob sie für mich einen Zusammenhang hätten mit Salvador Allende und Pablo Neruda.
„Das Schönste hier ist das Schloss“, sagte die alte Frau. „Kennen Sie das Köpenicker Schloss?“ Wendenschlossstraße, Salvador-Allende-Straße, Pablo-Neruda-Straße: Ich gehe erst um das ganze Allendeviertel herum, wegen der blumigen Namen sogar durch die Anemonen- und Gladiolenstraße auf den Müggelschlösschenweg zurück, der 1973 an Pablo Neruda seinen städtischeren Teil abgegeben hat.

Die hohen Häuser des Allendeviertels wurden mit 2.670 Wohnungen 1971 bis 1973 gebaut, „in Typenbauweise“ steht im Reclam-Kunstführer, der sich auch sonst sehr fein ausdrückt. Als Straßen und Viertel ihren Namen bekamen, waren Allende und Neruda gerade tot, Allende, rechtmäßiger Präsident Chiles, ermordet am 11. September 1973 unter Beteiligung mancher, die es nicht gewesen sein wollen, Pablo Neruda, Nobelpreisträger für Literatur, gestorben zwölf Tage später.
Jetzt scheinen sie mir schon weit zurückzuliegen in der Vergangenheit der Geschichtsbücher und Literaturgeschichten. Ich war damals längst, was ich auch jetzt noch bin, außerdem Richter am Kammergericht, was ich jetzt nicht mehr bin. Die junge Frau, die von der Kita nach Hause geht über den weiten Hof zwischen Allendes und Nerudas Straße, war damals vielleicht noch gar nicht geboren, und die alte Frau, die das Schloss liebt, hatte – wie ich -, ohne es zu wissen, schon alles hinter sich, auf das man glaubt, Einfluss ausgeübt zu haben.

Die Altstadt von Köpenick ist ein geschütztes Denkmalensemble, so ähnlich heißt es auf dem Schild in der Müggelheimer Straße, in der sich die Autos stauen. Aber das Allende-Viertel ist für Köpenick viel typischer als Schloss, Altstadt und Kietz. Auch dieses Hochhaus-Ensemble mit innerem Stadtgarten ist aber mit Anspruch und Namen bereits Zitat. Im namenlosen Volkspark zwichen Neruda-Straße und Müggelheimer Damm sitzt ich einen Augenblick in der Sonne, ich schaue hinüber auf die hohen Fassaden der Neruda-Straße, die die KöWoGe „im Plattenbau-Sanierungsprogramm“ erneuert, eingeschlossen 928 Wohnungen. Die Fronten mit den verglasten Loggien sehen frisch aus.
Das Feld hieß Amtsfeld mit historischem Namen. Die Gaststätte Amtsfeld verfällt, die Fenster sind zertrümmert, Pappen davor, der Verbrauchermarkt „extra“ daneben ist offen, sieht aber zwischen Moni’s und China-Imbiss mitgenommen aus; erst recht der Jugendclub: abgesprayt ohne nennenswerte Gestaltungsleistung, fast nur Geschmiere, allenfalls das Frauengesicht an der Treppe hinter dem Basketballkorb verrät einen gewissen Darstellungswillen, ist aber schließlich auch kaum mehr als ein pubertärer Bewältigungsversuch, da fragt man sich mit dem sozialpädagogischen Kopf: Was bedeutet das hier?
Vor der 5. Oberschule, einer Gesamtschule, steht ein bis in die Augenwinkel silberner Kopf des stark bebrillten Präsidenten Allende; da fragt man sich mit dem zeitgeistigen Kopf auch: Was bedeutet das? Wem bedeutet das Abbild irgend etwas?

In dem Bürger-Info-Kasten nur zwei Anschläge: Der PDS-Sprecherrat Allende-Viertel lädt zum Frühschoppen über Verkehrspolitik ein, die Aktion Knochenmarkspende zum Benefizkonzert. Nun bin ich längst im Innenraum zwischen den Wohnblocks: Einen Hof, wie vorhin, sollte ich die Anlage nicht nennen. Es ist ein städtischer, mittelstädischer Wohnpark, viel Grün um die Parkplätze, Spielplätze, Kitas, Schulen, Spazierwege. Mit solchen städtebaulichen Vorstellungen sind seit den 50er Jahren überall auf der Welt Planer berühmt geworden. Hier hießen die Architekten Helmut Stingl und Edith Diehl, Kollektive (sagte man), sie haben ihre Arbeit gut gemacht (wer bin ich aber und wo wohne ich, dass ich hier Zensuren verteilen dürfte?).
Stadtlandschaft – hieß das Wort, als ob sich die Gegensätze vereinbaren ließen. Das Allende-Viertel ist eine solche Gartenstadt. Es ist ein in sich geschlossenes Quartier, es wirkt von drinnen vertraulicher als von draußen, nachbarschaftlicher. Der Innenraum hat an manchen Stellen fast etwas Intimes, man muss Bescheid wissen, um auf Anhieb die richtigen Wege zu finden. Hätte man nicht den Innenstraßen eigene Namen geben sollen?

„Zecke verrecke / Deutschland erwecke / Hitler komm wieder / wir schlagen sie nieder“ steht im Pavillon am Spielplatz, „Gez.: Die Zecken“. Ich denke: Den Kindern gehts hier gut, den Jugendlichen vielleicht nicht. Ich gehe den Birkenweg auf der Innenseite der Häuser an der Wendenschlossstraße entlang unter dichten Bäumen, bis vorne zum Altenheim, das jetzt an eine Baustelle grenzt. ich steige die Treppen des Schwefelberges hinauf zum Asphaltplateau, das ungepflegt und ungenutzt aussieht, der Weg abwärts endet in einer umzäunten Baustelle, aus der ich nur mühsam herausfinde.
Das ganze Wochenende habe ich damit verbracht, Neruda zu lesen. Als ich mir am Freitag die dtv-Ausgabe des Großen Gesanges kaufte, hatte ich vergessen, dass ich eine frühere Ausgabe davon längst in meinen Regalen habe. In der DDR ist Neruda früher rezipiert worden, als in der alten Bundesrepublik. Ich schreibe nicht für versessene Kunstjünger. ich kaufte keine Parzelle des Himmels, den die Priester verkauften. Wie ist der Himmel der Steine beschaffen? Friede für die Abenddämmerungen, die kommen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Bundesarchiv, Bild 183-M1103-0013 / CC-BY-SA 3.0

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