Platanen, Busch

Kreuzberg verabschiedet sich am Flutgraben mit Pappeln. Die Bäume, die die Puschkinallee zu einer der schönsten Alleen Berlins und zu einer europäischen Straßenschönheit machen, das sind dagegen Platanen. Ich habe einen Weg durch den Schlesischen Busch gemacht, um über die Görlitzer Bahn in weitem Bogen diesen Platanen zu begegnen. Es ist ein Stadtspaziergang mit Wahrheiten über die Stadt, die nicht im Baedeker stehen. Auch die Wahrheit ist nicht immer die Wahrheit. Wo kann man das besser lernen als in Berlin? In Berlin stießen die weltpolitischen Wahrheiten aufeinander und bezeichneten sich gegenseitig als Lügen.

Am Ende der Straße „Vor dem Schlesischen Tor“, kurz bevor die Puschkinallee beginnt, sieht man auf Kreuzberger Seite unten noch das flache Straßenrondell, damit der Wessi, der sich damals auf der richtigen Seite der Weltgeschichte fühlte, bequem sein Auto wenden konnte, nachdem er ins „Reich des Bösen“ geblickt hatte. Auf der anderen Seite haben das viele gewiss ähnlich gesehen, nur eben umgekehrt.
Nun ist Dieseits und Jenseits gleichermaßen unseres. Das kann man hier, wo sich Kreuzberg und Treptow freundlich begegnen, vor allem am Nachmittag nach drei Uhr gut erkennen, wenn Auto an Auto hinüber und herüber passiert, als ob es nie anders gewesen wäre. Die Grünflächenämter beider Bezirke sind von gleicher Tüchtigkeit. Um den Flutgraben haben sie eine Parklandschaft entstehen lassen, die, wenn man auf der einen Seite noch den Görlitzer Park und auf der anderen hinter dem Schlesischen Busch eben die denkwürdige Puschkinallee hinzunimmt, ihresgleichen sucht. Die Landschaft liegt über der Geschichte und den Geschichten, die die Arbeiterbezirke hier hervorbrachten, als eine freundliche Decke über dem Tisch, unter den wir alles kehren können, was uns entzweit.

Ich verweile auf der Treptower Brücke. Die Pflastersteine zitieren Wellenmuster, die der Flutgraben selbst nicht zuwege bringt. Die Sprayer, die so viele Leute mächtig ärgern, haben nicht lange gezögert, um auf der Brücke ihre Zeichen zu hinterlassen. Darunter ist ein Liebesbrief an „Ivon“ und von demselben Mika ein poetischer Text:

Wir sind durch Wasser gegangen und nicht nass geworden /
Ihr habt uns 20mal gesteinigt, wir sind nicht gestorben /
Wir haben im Kühlschrank übernachtet und sind nicht erfroren /
Wir sind ein Dorn im Auge unserer Feinde /
weil jedes Wort wahr und außerdem gereimt ist /
scheint es wie Zauberei

Von dieser Brücke hat der Spaziergänger nach allen Seiten eine beruhigende Aussicht. Ein sacht steigender Parkweg führt auf den Spazierweg hinauf, der auf der ehemaligen Eisenbahntrasse, aus dem Görlitzer Park heraus und weit durch Treptow entlang führt, als sei es ein Museumspfad: uns zu zeigen, was war und wie’s wird; rechts die Kiefholzstraße, die Jordanstraße links ist nur noch halböffentlich von Gewerbeparks eingenommen, die wenigstens eine bauliche Ahnung an den Namensgeber wachhalten: Max Jordan, aus südfranzösischer Hugenottenfamilie, gründete in der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Lohmühlenstraße, die ich auf erhöhtem Spazierweg hier überwandere, den ersten Treptower Industriebetrieb, eine Anilinfabrik, später Agfa Treptow.

Wenn man dagegen nun betrachtet, wie sich der Gewerbehof Lohmühlenstraße 65 aus den Restaurierungen erhebt zu mittelständischer Lebendigkeit, erlebt man ein Stück aus dem großen Zeittheater. „Edle Wilde Zeittheater“ steht an einem Schaustellerwagen der Rollheimersiedlung, die auf der anderen Seite dem Parkensemble widerspricht. Nachdem ich an der Bouchéstraße von dem Hochweg irregulär abgestiegen und beim Supermarkt Netto um die Ecke gebogen bin, führt mich der Weg zwischen dem weiten Gewerbehof der Steremat AG und den fünfflügeligen Neubau der Bewag hindurch, zu dem Park zurück, der den tief in die Stadtgeschichte weisenden Namen „Schlesischer Busch“ führt. Aus Schlesien kamen viele, die in Berlin das Glück suchten und fast Sklaven wurden, des Kapitalismus, der auch Theodor Fontane nur in den gesellschaftlichen Regionen beschrieben hat, in denen ihm mit Ironie beizukommen war. Von den schlesischen Arbeitssöldnern ist da wenig die Rede. Die Chemiefabrikanten haben ihre Dichter gefunden, wenn auch kritische, die Chemiearbeiter nicht, sie deckt der Rasen zu. Ich versuche an sie zu denken, während ich an dem kräftigen Zaun entlang gehe, durch den sich die Bewag von dem Park abgrenzt. Zwei ausladende Parkbänke stehen hinter den Gittern vor den Mercedeswagen.
Gleich hinter der Bewag öffnet die Puschkinallee ihre Platanentor. Ich grüße die edlen Bäume, die ich liebe, weil sie so empfindsam aussehen und zugleich so zuverlässig. So möchte ich sein: empfindsam und zuverlässig, fest.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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