Baumschulenweg

An diesem Freitagnachmittag kam ich aus Köpenick, Spindlersfeld. Das ist draußen. Herunter vom Bahnsteig Baumschulenweg, vorbei an dem ausführlichen Blumenstand: auf der Baumschulenstraße, das ist mttendrin. Gleich ein weiteres Blumengeschäft, mit Ausstellung weit auf die Straße, es folgt das dritte und vierte: Die vielen Blumengeschäfte auf der Baumschulenstraße – das ist das erste, was mir auffällt, hoffentlich kaufen die Leute genug Blumen, dass alle Blumengeschäfte auf der Baumschulenstraße ihr Auskommen haben und alle anderen in der Stadt auch: Was wäre die Stadt ohne Blumen? In einer Stadt ohne Blumengeschäfte möchte ich nicht leben. Oder in einem Land, in dem die Vögel nicht singen. In meiner Jugend lehrte mich meine Mutter die Vogelstimmen.
Ich hörte auf der Baumschulenstraße einen Zeisig – kann das sein? -, als ich auf dem Mäuerchen Ecke Ernststraße saß und einen Döner vom türkischen „Grillspezialisten“ verzehrte.

Die Ernststraße ist sehenswert; wegen der ein- und zweistöckigen Häuschen, die das Großbürgerliche des kapitalistischen Jahrhunderts ins Kleinbürgerliche übersetzen, manche stehen unter Denkmalschutz; welche Erinnerungen schützen sie? Der Sachbearbeiter beim Denkmalsamt ist nicht da, er hat erst morgen Sprechstunde; einige verfallen immer noch, einige erheben sich in die renovierende Epoche, für die kurz vor der nächsten Jahrhundertwende die letzte schon so weit zurück liegt, dass man einfach „schön“ sagt zu jeder Fassade, die nicht modern oder postmodern aussieht.
Ich bin in dieser Straße eingebogen, weil es hier eine Buchhandlung gibt, später die Stadtbibliothek Treptow mit unscheinbarem, unbürgerlichem Eingang. Ich bin auf dem Wege zum Friedhof in der Kiefholzstraße.

Die Kiefholzstraße ist eine wesentliche, Wesen ausdrückende Straße; Kilometer lang zieht sie sich fast vom Görlitzer Park bis zur Königsheide und fasst sozusagen Kreuzberg, Neukölln und Treptow zusammen. In ihrer Mitte geht sie mitten durch den riesigen Friedhof, den sie in einen alten und einen neuen Teil teilt. Inmitten des alten erhebt sich eine Baustelle; meine norddeutschen Erinnerungen würden ein Trockendock identifizieren, es entsteht aber aus der Planungsfeder des Kanzlerarchitekten Schultes ein Krematorium, ein neuer städtischer Verbrennungsofen anstelle des alten, der nach dem Weddinger Krematorium der zweite in ganz Preußen war. Meine Vorstellungskraft reicht nicht, um mir aus dem Bild auf dem Bauschild ein Bild zu machen: ein grün-blauer Wald von Betonsäulen, ein Wagnerwald, eine Mytheninszenierung. Der erste Grabstein, von dem ich einen Namen mitnehme, nennt Erika Tannhäuser.
Der Friedhof ist weiträumig, ein schöner Park, ich gehe den äußersten Weg entlang, bis zum Drahtzaum am Wasser des Britzer Zweigkanals, bald ist der Totenacker nur noch eine Wiese, gut gemäht, hinten im Süden geht er ganz über in Landschaft, näher in der Mitte von Wiesenwellen umgebene Rasenflächen, auf denen die Blumensträuße im Kreis stehen um die Urnenstätten, die die eingegrabene Asche nicht mehr mit Menschen-Namen benennen möchten.
Die Sonne kommt aus den Wolken, auf den gelben Containern an der Krematoriumsbaustelle flattern die weiß-blauen Fahnen von Bilfinger und Berger, der Baufirma, der Polier pfeift ein fröhliches Liedchen, er macht Feierabend.

Ich nehme den 166er, über die Kiefholzbrücke, die der Senat – wie er sagt – von Grund auf instand setzt. Bei der Frauenfahrschule, dem Kiefholzeck gegenüber, steige ich aus, um die Kirche zum Vaterhaus zu erreichen, ein Stück weiter in der Baumschulenstraße.
„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“; einer der schönsten Sätze aus dem geheiligten Buch steht an der Front der Doppelturm-Anlage, die Seitenflügel mit Schule und Volkshochschule umschließen den kleinen Straßenplatz mit ausgebreiteten Armen, über 20 Bänke, ein bunter Brunnen, auf der anderen Straßenseite entsteht ein gelb-schwarz-weißes Neuhaus, das etwas grell herüberschaut auf die Kirchenfassade, die seit 1911 schon manches hinter sich hat.
Die Baumschulenstraße heißt nach der weltberühmten Baumschule von Franz Ludwig Späth, der die Sumpfwege erschließen ließ und einen großen Teil seiner 200 ha Land als Bauland verkaufte, als er seinen Betrieb nach Ketzin verlegte.
Die Geschichte vieler Straße hier fängt an mit der Abholzung der Cöllnischen Heide, mit Baugenossenschaften und ihren Vorsitzenden.
Manche Straßen heißen nach polnischen Ortschaften, denn daher kamen viele, die hier Arbeit und Unterkunft suchten um die vorige Jahrhundertwende. Aber warum hier Straßen nach Minnesängern des hohen Mittelalters heißen, nach Heinrich von Meißen zum Beispiel, der im 13. Jahrhundert lebte und sich Frauenlob nannte, das verstehe ich nicht, um es nicht als Ironie verstehen zu müssen.

Ich gehe die Frauenlobstraße in Neuköllner Richtung durchs selbstverständlichste Treptow, an St. Anna vorbei, „Nebenstelle von St. Richard“, Veranstaltungen der Anonymen Alkoholiker in polnischer Sprache, alle Achtung.
Ein kleines Stück Rinkardstraße, der Namensgeber war nicht gerade ein Minnesänger, aber doch ein dichtender Theologe: Nun danket alle Gott. Der Heidekampweg, nach dem Wassergraben genannt, den ich gleich überquere und der Jahrzehnte lang eine Art Weltengrenze war, führt gegen Neukölln hin durch einen Wohnbezirk, den man eine Gartenstadt nennen könnte; wie drüben hinter der Mauerbrache das Neuköllner Märchenviertel um die verbindende Hänsel-, die Gretel-, Rübezahl- und Drosselbartstraße erst recht.
Ein Franzose, der 1943 als Zwangsarbeiter in dem Barackenlager an der Scheiblerstraße leben musste, schrieb über die Gegend: „Ein anständiges Armeleuteviertel, kleine Fabriken, Handwerksbetriebe, unbebautes Land, triste Mietskasernen“.
Die Bilanz des Jahrhunderts der Zerstörungen ist am Ende vielleicht doch freundlicher, denke ich, als ich zur S-Bahnstation Köllnische Heide hinaufsteige und zurückblicke.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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