Von Altglienicke nach Grünau

Der S-Bahnhof Altglienicke ist nur ein Bahnsteig neben der Ein- und Ausfallstraße. Wenn der Zug weg ist, denkt man, man ist ganz woanders. Kein Haus zu sehen, die Menschen fort, nur ihre Autos drüben am P+R-Platz. Er ist ein Stück vom Paradies. Paradies heißt die Straße, die ich über die Fußgängerbrücke erreiche, welche den Bahnsteig erschließt. Paradies – das ist in einer bestimmten Zeit der Entwicklung deutscher Städte ein Traditionsname gewesen. Für Wiesenflächen, auf denen später auch gern Sportplätze entstanden. Die Stadt und das Paradies, in dem man sich von der Stadt erholen kann. In den Erzählungen meines Vaters, an denen sich meine Kindheit orientierte, kam oft das Paradies vor. Nicht dieses hier. In Jena, die Saalewiesen, als Sport noch verboten war und ein Gymnasiast mit Schülermütze sich nicht beim Sport erwischen lassen durfte. Im Paradies. Dieses hier soll seinen Namen von der sozialdemokratischen „Arbeiterbaugenossenschaft Paradies zu Berlin e.G.m.b.H.“ haben; wie kam das Paradies zu den Sozialdemokraten Anfang des [vorigen] Jahrhunderts?

Die kahle Straße entlang gehend frage ich mich das; rechts der „Falkenberg Park“, an dem man – wie jetzt mancherorts – den Bedeutungswandel von Wörtern erfährt: Park – das war früher etwas Landschaftliches. Aber die Landschaft, die sich weit nach links (so sieht’s aus) zum Langen See und den Müggelbergen hinzieht, in einer welligen Wiese aus falschem Ginster, gelb und Pappel-bestanden – das ist nicht der Park. Der Park – das sind die Geschäftsansiedlungen rechts: Bosch, Siemens, Berlin Marketing Versand Service, Apotheken Auslieferungs-Dienst, apetito catering, Bäckereiverkaufsmobile, Schmierstoffservice: ironisch doppeldeutig – das ist der Park. Von der Schule, die weiter unten an der Buntzelstraße das beherrschende Gebäude ist, wäre hier oben im Paradies nichts zu ahnen, wenn nicht Schülerinnen vorüberzögen, müde vom Lernvormittag. „Ich beneide die Arbeitslosen“, sagt voller sozialer Fahrlässigkeit die eine, „die könn auspenn, die brauchen keine Scheißarbeiten zu schreiben, nüscht!“

Die Vegetationsfläche, die ich nun in weitem Bogen über Paradies-, Buntzelstraße, Gartenstadtweg umwandere, gehört der Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 e.G., die sich weiter oben bei ihren historischen Häusern einfach „1892“ nennt. Die Gartenstadt, die der Gartenstadtweg im Namen führt, hat sich ursprünglich viel weiter die Erhebung hinauf erstrecken sollen, vielleicht bis hierher; von Bruno Taut gibt es einen Plan, eine Ansicht aus den Augen eines anfliegenden Vogels, vielleicht – welchen Vogel sollen wir uns vorstellen? – vielleicht eine Schwalbe: links erhebt sich ein hohes „Volkshaus“, eine breite grüne Parkstraße in der Mitte, ein sich im halben S nach Osten schwingendes Straßenband, das unsymmetrisch gliedernd eine Nord-Südstraße schneidet, dazwischen die Hofquarees, Reihenhauszüge, fern von mathematischer Regelmäßigkeit, in einer Ordnung des Fühlens. Aber wessen Gefühl? Gegenüber diesem Plan nimmt sich das Verwirklichte, das ich gleich sehen werde, wie ein kleiner Anfang aus, der auch selbst erst wieder hervorgehoben werden muss aus dem Staub der Zeiten, der sich schon darüber gelegt hatte.

Der Gartenstadtweg, in den ich von der Buntzelstraße nach links einbiege, ist auf dieser Seite nur bis zum Höhenweg eigenheimlich bebaut, dann geht ihm der Asphalt verloren, erst kommt feiner schwarzer, dann hellerer Sand, und die Straße wird nun ihrem Namen entsprechend wirklich ein Weg. Ein Paar im Auto löst sich hastig voneinander, als ich näher komme. Die Frau blickt schnell in die Weite, dorthin, wo Bruno Taut nicht gekommen ist, der Mann mustert mich knapp von der Seite, während er den Motor anlässt. Entschuldigung! Ich wollte nicht stören. Links hinten der spitze Turm der Kirche von irgendwo, vor mir das obere Stück eines bezinnten Wasserturms, die Flugzeuge nach Schönefeld fliegen tief an. Hinter dem Hundetrainingsplatz gewinnt die Straße ihren Belag zurück, erst breite, fast quadratische Platten, weiter unten, wo es historisch wird, Pflastersteine. In einem gemütlichen Bogen fällt der Gartenstadtweg nach Norden ab, ab hier: Denkmalschutzgebiet. Die erste Zeit der Bruno-Taut-Siedlung ist verfallen. Von Bruno Tauts berühmter Farbigkeit sind nur noch blasse Erinnerungen da. Gegenüber allerdings leuchtet es neu, da ragt das schwarze Haus schwarz-weiß-rot zur Straße herauf, als ob es von gestern wäre, und unten am Straßenende ist man gerade dabei, einen Block – wie weiter oben bereits ein schönes Pendant – so herzustellen, wie Bruno Taut es vorgemacht hatte. Die Gartenstadt, durch die ich jetzt innerlich aufgeregt und mit widersätzlichen Gedanken gehe, ist von 1913, 1913 bis 1915. Als die herrschenden Mächte alle Welt ins Feldgrau zwangen und darüber noch Begeisterung erhielten, in dieser dunklen Zeit des Untergangs, in dem auch die europäische Arbeiterbewegung moralisch unterging – man kann es nicht anders sagen -, in dieser Zeit baute ein junger Mann, 33 Jahre alt, diese bunten Häuser, Alternativen zu den Mietskasernen der bitterschönen Stadt Berlin. Die leuchtenden Farben der Gartenstadt am Falkenberg waren mitten im Ende ein Anfang. Nach WK I baute Bruno Taut – bevor und nachdem er Stadtbaurat in Magdeburg war – in Berlin von Neukölln nach Weißensee, PrenzlBerg bis Zehlendorf beispielhafte Stadtquartiere, unter Bäumen, um Wiesen. Genossenschaften, Gewerkschaftsunternehmen waren die Auftraggeber, von denen eines der wichtigsten später an die Stadt Berlin ging, die sich jetzt durch ihre SPD-Ministerien davon trennen will, wie von einer lästigen Last, die nur noch nach ihrem Geldwert zu messen ist. Aber halt! Die Vergangenheit ist nicht besonnt! Keine nostalgische Kritik der Gegenwart! Die Gartenstadtidee war keine Idee für das ganze Jahrhundert. Stadt ist Stadt, kein Garten. Der nachdenkliche und kenntnisreiche Architekt Brenne, der hier oben Wiederherstellungsverantwortung hat, sagt es nicht so. Er hat hier am Falkenberg Reste der alten Tradition erlebt. Die Bewohner haben sich nicht gewehrt gegen die neue alte Farbigkeit wie andere in Zehlendorf in ähnlicher Lage, die absolut kein Schwarz sehen wollten und wenn es von Taut war, für sie war es von Grieneisen. Hier nicht: Bruno Tauts Sohn war hier. Hat seines früh und in der Fremde verstorbenen Vaters gedacht. War Bruno Taut vielleicht überhaupt der größte deutsche Architekt (wenn es hier eine Rangliste gibt)? Jetzt ist er historisch. Am Akazienhof, wo diese Gartenstadt begann, wird auf einem dunklen Schild der Arbeiter gedacht, welche 1920 gegen den Putsch von Rechts noch wussten, welcher Gesinnung zu verdanken war, dass sie hier seit 1913 wohnten. Es waren die Gewerkschaften, die, trotz zögernder Führer, den Kapp-Putsch niederschlugen. Aber auch in den Kolonnen, die dann unter Adolf Hitler alles erledigten, marschierten nicht nur Kapitalisten und höhere Angestellte. keine Illusionen! Es gibt die Opfer und die anderen. Für diese ist die deutsche Geschichte nicht eingeteilt nach Guten und Bösen, und die kleinen Leute wären immer die Guten gewesen.
Der heiße Sommer hat mich müde gemacht. Kein Kaffeehaus hier, in dem ich unter schattigen Bäumen meine Gedanken ordnen könnte. In Grünau in die S-Bahn. In den gültigen Tag.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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