Zum Friedhof, durch den Friedhof und um den Friedhof herum

Als die Mauer entfiel, lebte ich schon 28 Jahre in Berlin, hatte in vier Westberliner Amtsgerichten, im Landgericht, im Kammergericht amtiert, war politisch tätig gewesen, hatte mich sozial engagiert, glaubte Bescheid zu wissen und kannte doch von der anderen Hälfte der Stadt fast nichts, vom Prenzlauer Berg hatte ich kaum den Namen gehört. Wir erfuhren, dass es in Ostberlin Stadtkarten gegeben hatte, auf denen Westberlin ein weißer Fleck war wie das Innere des Kongo, als Stanley aufbrach.
Vorwärts, denke ich also, vorwärts und nichts vergessen, als ich von der Schönhauser Allee in die Saarbrücker Straße einbiege. Ich gehe in die Richtung, in die am Haus Nummer 15 Kaulbach blickt, Schinkel sieht nach Westen. Die Saarbrücker Straße hebt sich den Hügel hinauf und fällt von ihm wieder ab in eleganter Biegung, die die Häuser Nr. 6 und Nr. 29 bis in ihre verfallenen Fassaden mitvollziehen. Aus Nummer 7 gibt es einen Blick in den Geist der Zeit; die Hauslücke gegenüber zeigt hinten den Fernsehturm und vorne in Buntplakaten Westpoint, Robert de Niro, Clint Eastwood: Zigaretten und Fernsehen nach US-Muster: ein Auszug aus der Kultur der Gegenwart, Nichts und darüber Glasur, sagte Benn, hier viel zu romantisch. Wo die Saarbrücker Straße auf die Prenzlauer Allee trifft und wo ein Findling auf halber Erhebung an Karl Liebknecht erinnert und behauptet, der Rechtsanwalt habe 1919 von hier etwas geführt, während er doch von seinen Illusionen geführt wurde, werden Nalbach und Nalbach, die Westarchitekten, das Bötzow-Center bauen für Bauherren aus Böblingen; auf breitem Transparent fordern sie uns auf, uns jetzt schon auf Nalbachs Ergebnisse zu freuen.
Die Straße, die gegenüber die Saarbrücker Straße fortsetzt, heißt wie der Bezirk selbst: Prenzlauer Berg. Sie erhebt sich neben dem konkav geschwungenen Neubau, eines Ibis-Hotels und dem Nicolai-Friedhof den Hügel hinauf, der nach ihrem Namen ein Berg ist, und führt wieder von ihm hinab zu der breiten Autostraße, die seit kurzem nicht mehr nach dem erfolglosen Spanienkämpfer Hans Beimler heißt, sondern nach dem erfolglosen Ministerpräsidenten Otto Braun. Ein Unterschied zwischen den beiden Namensgebern ist, dass der frühere im Kampf gegen die Diktatur sein Leben ließ, der heutige dagegen in der Schweiz überlebte.

Auf ihrem Höhepunkt verläuft die Straße mit dem Bezirksnamen zwischen Friedhöfen. Die Friedhofsmauern sind offen: Verfall und Aufbau; aber „Aufbau“ klingt merkwürdig in Bezug auf Friedhöfe. Der Friedhof der St. Georgen- und Parochialgemeinde öffnet sich zur Greifswalder Straße. In Berlin gibt es viele schöne Friedhöfe. Es ist viel und nachhaltig gestorben worden in der Stadt. Manche Friedhöfe liegen in der Stadt wie Eingangsstollen nach unten; das sind die touristischen Friedhöfe, auf denen es Lesebuchgeschichten gibt, weil sie Gebeine verwahren, derer sich die Pädagogik erinnert. Von dieser Art ist dieser Friedhof nicht.
Aber er ist zur Zeit einer der tiefgründigsten Friedhöfe Berlins. Er war fast aufgegeben, Herr Heilemann, der Friedhofsleiter mit dem schönen Namen, restauriert ihn jetzt, sozusagen. Er ist auch wieder belebt…; aber kann man „belebt“ sagen, um zu beschreiben, dass hier nach einer zeitgeschichtlichen Pause wieder beerdigt wird? Es wird sogar mit Überlegung beerdigt. Herr Heilemann wirbt für eine neue Form des Totenschlafes. Auf einem „Erbbegräbnis, für das es keine Hinterbliebenen gibt“, veranstaltet er gegen einen Pauschalpreis „halbanonyme Urnenbeisetzungen“. Fast denke ich: Hier wird Friedhofsmarketing betrieben, aus einer alten Stätte soll wieder eine neue werden. Das Besondere des Friedhofs ist aber gerade das Interim. Die Toten sind tot, sie schlafen nicht (obwohl das auf einem bestimmten Grabstein behauptet wird), aber ihre Schlafstätten schlafen manchmal, sie können infolgedessen wieder erwachen.

Der Parochialfriedhof tut das gerade. Er schlägt sozusagen eben die Augen auf. Er umschließt mehrere schöne Wege, fast Alleen, ein Birkenweg darunter wie ein Feldweg durch eine frühlingsgrüne Wiese. „Radfahren verboten“, steht am Eingang Prenzlauer Allee; Herr Heilemann hatte wohl Grund zu diesem Verbot; aber warum passt Radfahren nicht zu den Toten? Warum muss es still sein gerade da, wo die Bewohner gewiss nichts hören? Friedhöfe sind für die Lebenden, die Toten sind nur die Statisten. Der Blick aus dem Friedhof über die Mauer in die Winsstraße, von der ein Stück früher nach Fritz Dahlem hieß, der fast schon als Lebender tot war, bis er ein bisschen wieder auferstanden ist, ist wie ein Blick aus den beendeten in die laufenden Zeiten.
Der attraktivste Weg dieses Friedhofs läuft an seinem westlichen Ende entlang, an der Hofseite der Häuser der Prenzlauer Allee. Die Hofmauern sind auch die Friedhofsmauer. Eine schwarz-weiße Katze sitzt neben dem Fachwerkshäuschen, das ein Teil der Mauer ist. Sie beobachtet mich oder den verlassenen Grabstein von Klaus Dieter, der 1938 geboren und gestorben ist; was ist ihm erspart geblieben, frage ich mich voller Sympathie für das unbekannte Kind, das nun ein alter Mann wäre, nur wenig jünger als ich. Ein Zeisig ruft. Als ich ein Kind war, lehrte mich meine Mutter die Rufe der Vögel. Da war meine Mutter jung, ich war ein Kind, jetzt bin ich alt, meine Mutter ist sehr alt. Mir kommen die Tränen, das Herz ist mir schwer, aber ich bin nicht traurig, denn ich bin für immer getröstet in der Gewissheit, dass vorbei ist, was beendet ist.

Der Neubau Prenzlauer Allee Nr. 8 hat dem Friedhof ein neues Mauerstück gebracht, von der anderen Seite beherbergt dies Haus die sogenannte Tea Gallery, in der ich einen interessanten Kerzenleuchter betrachte mit blassen viereckigen Kerzen. Ich gehe die Heinrich-Roller-Straße abwärts, um die Allee von der Seite der Lebendigen zu betrachten, die ich auf der Seite der Toten eben aufwärts gegangen bin. Zu den Lebenden bildet die Friedhofsmauer einen Parkplatz. Gegenüber die 2. Grundschule, vielleicht das älteste öffentliche Gebäude des Bezirks. „Prenzlauer Berg bleibt rot“, ist an die Friedhofsmauer angesprayt in gelb und blau, den FDP-Farben. Daneben ein Laden, der geschlossen ist und sich – die Medien widersprüchlich vermischend – Video-Buchhandlung nennt. Der Friseur im renovierten Haus Nr. 9 kündigt den Nachbarn eine Party an, auf der es vielleicht laut wird. Durch die Greifswalder Straße weht der Wind der Veränderung.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: 44 penguins, CC BY-SA 2.0

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