Von Ribbeck, Falk zu Arnim

Wenn man vom Bahnhof Eberswalder Straße herunter ist und sich vielleicht vorstellt, wie das hier alles aussähe, wenn in der Straßenmitte nicht die grün-eisernen Bogen stünden, auf denen sich die U-Bahn in eine Hochbahn verwandelt, liest man angesprayt:
Wem gehört Berlin? Das ist eine Frage, die – fürchte ich – nicht hier im Prenzlauer Berg beantwortet wird. Zwischen den Grünflächen des Jahn-Sportparks links und der Schönhauser Allee rechts führt die Cantianstraße durch einen städtischen Zwischenbereich.

So laut und geschäftig die Schönhauser ist, so ruhig und gelassen ist es hier. Die Baptisten bauen für Behinderte. Auf einem Stadionpfosten sitzt ein 12-/13-Jähriger und sieht den Bauarbeitern mit traurigen Augen zu. Weil er einsam ist? Oder weil er schon darüber nachdenkt, ob er, wenn die Ferien vorüber sind, die Schule wieder angefangen hat und schließlich auch die Schule endgültig aus ist, eine Lehrstelle bekommt?
Ecke Milastraße, am Eingang des Gewerbehofs, hängt eine große grün-gelbe Birne: „Ribbeck“ heißt das angenehme Lokal, in dem ich hier zu Wurstsalat und Bratkartoffeln einkehre. Zu Hause habe ich gleich begonnen, Fontanes Ballade über die Birnen von Ribbeck auswendig zu lernen, bin aber in der Anthologie bei Gaudy und bei Gleim hängengeblieben, den Kleindichtern, nach denen die Straßen heißen, die ich um den Falkplatz gleich erreiche.
Der Falkplatz ist eine weite, baumbestandene, nach Westen offene Wiese mit vielen neuen, noch unbesprayten Bänken; die Südseite: die Max-Schmeling-Halle, in der Ballsport mit der modernen Ernsthaftigkeit betrieben wird, die die Massen von der sportlichen Aktivität selbst ausschließt, um sie in Werbekonsumenten zu verwandeln.

Als ich zur Ystader Straße den Platz verlasse, lese ich unterm Hakenkreuz: „Ausländer und Wichser raus!“ Der Namensgeber Falk war ein sonst nicht zu erinnernder preußischer Kulturminister. Dass es an seinem Platz palastartige Schulen gibt, passt also. Die beiden Frauenköpfe am Erkervorbau der weiß renovierten Fassade von Nr. 13 blicken mit erschreckter Fräuleinhaftigkeit zu den Schulen hinüber.
Lange stehe ich an der Ecke Ystader/Kopenhagener Straße. Das ist eine Straßenkreuzung, die nach zwei Seiten in Sackgassen ausläuft. Eine hohe Pappel, Vogelbeerbäume. Die leichter Straßenhebung in der Ystader wie der Kopenhagener hierher zu meinem Standort, diagonal gegenüber dem „Kopenhagener Eck“, versuche ich als eine innere Erhebung fortzusetzen.
Die S-Bahn verläuft hinter der Mauer, mit der die Ystader endet; die Züge sind zu hören, nicht zu sehen. Das vermittelt mir das Gefühl, stille zu stehen in den Bewegungen der Großstadt. Ich blicke die Kopenhagener westwärts, an den grauen, der erneuerten gelben und weißen Fassaden entlang, hinüber bis in die Weddinger Ramlerstraße. Man sieht nicht, dass das begrenzende Grün dort hinten einmal zu einer Weltengrenze gehörte. „Hilfe“ steht am Laternenmast. „Meine liebe Katze ist vom Balkon gestürzt. Nun sitzen ihr Katerchen und ich zu Hause und wissen nicht mehr weiter.“

Einen Tisch und einen Stuhl wünsche ich mir hierher, dass ich in Ruhe versuchen könnte zu beschreiben, warum Orte wie dieser viel mehr von Berlin enthalten als manche, an die der Baedicker die Touristen führt. Hier sind wir bei denen, die das siebentorigen Theben wirklich bauten und bauen, wenn die Geschichte sie nicht stört, die Hure der oberen Herren. Unterm Mantel der Geschichte wachsen keine Blumen, denke ich weitergehend und kann mich von diesem Satz nicht trennen, der eigentlich nicht passt, denn hier wachsen ja meist auch diesseits der Geschichte keine Blumen.
Da bin ich auf der Fußgängerbrücke, die die Sonnenburger und die Dänenstraße über die S-Bahn verbindet, und sehe rückwärts über einem vernarbten Hof der Kopenhagener ein Blumenarrangement, hinter dem ich mir einen gemütlichen Dachgartenplatz denke. Von dieser Fußgängerbrücke lassen sich tiefe Blicke in das gewesene und das werdende Berlin tun.
Unten die S-Bahn bei der Rekonstruktion des Nordringes, vier Gleise, es werden mehr. Gegenüber die expressionistische St. Augustinus Kirche, eine katholische Straßenkirche, die ihr goldenes Kreuz wie ein Ausrufezeichen in den Himmel hält. „Kommt her zu mir…“ ist im backsteinernen Eingangsbogen eingemauert, aber es ist zu.
Um die Ecke in der Driesener Straße organisieren die Konfessionskonkurrenten „Jugend für Entschiedenes Christentum“. Ein Stück weiter unter dem offiziellen Gedenkschild für den ermordeten Antifaschisten Gustav Schiefelbein ein Schreibmaschinentext von Erwin Geschonneck, dem Schauspieler: „…Berlin, 50 Jahre danach“, nur noch schwer zu entziffern: „…Gustav Schiefelbein hat im KZ Neuengamme vielen geholfen … auch mir … Er starb in meinen Armen … ein mutiger Mann … Haltet bitte … in Ehren“. Ehre seinem Andenken.

Es rührt mich, dass die Straße nach Gustav Schiefelbeins Wohnhaus, das er nicht mehr erreichte, wenn auch mit ganz anderer Bezüglichkeit, Schivelbeiner Straße heißt. Sie führt mich auf den städtebaulich denkwürdigen Arnimplatz. „Bettina-Platz“ passte besser, Bettina von Arnim, die Frau auf dem 5-Mark-Schein, hatte sich immerhin einige Verdienste erworben gegen die Berliner Wohnungsnot, ihr Ehemann Achim, der die Volkslieder sammelte und ein Antisemit war, weniger.
Dieser Platz liegt tief in der wirklichen Geschichte Berlins, die mit leisen Stimmen erzählt wird. 1905 ging es hier los mit Mietskasernen, die mit ihren Fassaden Prächtigkeit vorgaben, die in den Quer- und Hinterhäusern dunkelste Dürftigkeiten verbargen.
In den 70er Jahren: größtes Modernisierungsgebiet der DDR. Die DDR hat hier städtebaulich Ehre eingelegt, 7.000 Wohnungen auf 38 ha anständig modernisiert, Mieter beteiligt, sich demokratisch gezeigt.
Stimmt das nicht? Das Grünflächenamt Prenzlauer Berg schreibt jetzt, dass es den Platz nach „historischem Vorbild“ restaurieren will.
Welche Geschichte meint das Bezirksamt? Keinen Schmuckgarten hoffentlich. Nicht zu viele Stein- und Pflasterwege, einen Platz für die Anwohner, nicht für die Hortaniker.
Unter dem verbotenen Rasen des Arnimplatzes wuchsen herrliche Champignons. Als die Nachbarin gebären sollte und die Mutter nicht wusste, wie sie vor den Kindern verbergen sollte, dass es nicht der erklärte Klapperstorch sein würde, der ankäme, hieß es: Runter auf den Arnim!
Dort konnten die Kinder Schlitten fahren, früher war es eine beliebte Eislaufbahn gewesen. Einer, den weder DDR noch BRD nach WK II gebrauchen konnten, wie Willy Brandt ein SAJ-Abweichler, erzählt das. Erich R. Schmidt. Sein Buch: „Meine Jugend in Gross-Berlin“ ist lesenswert.
Viele Leser hat es wohl nicht gefunden. Ich weiß nicht, ob Erich Schmidt noch lebt. In den USA. Als Amerikaner.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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