Von der Wollank- zur Vinetastraße

Mein heutiger Spaziergang beginnt, wo die S1 hält, am Anhalter Bahnhof. Ich gehe hinter dem Fassadenrest über die knapp begrünte Brachfläche; früher war hier einer der belebtesten Bahnhöfe Europas, Walter Benjamin identifizierte ihn mit der Eisenbahn selbst.
Weg, alles weg! Soll ich Reste suchen, wirkliche, gedankliche? Soll ich am Bahnhof Wollankstraße suchen, wo die Mauer war? Zwischen den nördlichen Brückenpfeilern, Zeichen an der Wand?
Früher dachte ich: Geschichte ist wichtig, Geschichte erklärt. Diesen Irrglauben habe ich aufgegeben. Was vorbei ist, ist vorbei. Das gilt für Mörder und Totschläger vielleicht etwas anders. Für uns andere aber ist Verdrängung die Voraussetzung des Lebens.
Keine Mauer an der Wollankstaße. Wo die Grenze zwischen Wedding und Pankow ist, die es vielleicht nicht mehr gibt, sieht man nicht, so sehr man sich niederbeugte. Zwischen Pankow und Wedding gibt es wohl nur zwei Straßenübergänge. Das sind die Wilhelm-Kuhr-Straße, die weiter oben die Bezirke unter der S-Bahn hindurch verbindet, und eben die Wollankstraße, in der – wie man wohl sagen kann – das Fernsehen erfunden wurde.
Man soll die Kinder herführen, damit sie sehen: Es hat eine Zeit ohne Fernsehen gegeben. Das habe ich an dieser Stelle früher geschrieben. Ich nehme es zurück. Nachdem es das TV gibt, ist es nicht nützlich, sich in Zeiten ohne TV zu versetzen. Ohne TV können wir nicht leben. Brot, Liebe und Fernsehen braucht der Mensch. Ohne Unterhaltung klappt das Leben nicht. Nicht umsonst sind „Unterhalt“ und „Unterhaltung“ in all ihrer Bedeutungsvielfalt fast dasselbe Wort.

Mit solchen schweifenden Gedanken stehe ich lange an der Ecke Wollank-/Brehmestraße; die beiden schön gelb renovierten Häuser wirken wie Torhäuser nach Pankow, solange man von der Grenze hier noch etwas ahnt und wissen will. Das nordöstliche Eckhaus dagegen hat Erneuerung nötig, die Stukkaturen sind beschädigt, die Balkone fort. Die DDR wurde, je mehr sie endete, immer balkonloser.
Die Brehmestraße ist voller Renovierung. Die Fassade von Nr. 62 (z.B.) steht in ihrem Gelb-Weiß fast klassisch da, kühl und geordnet. Es wird eine schöne Straße. Jetzt ist sie eine typische Straße des Berliner Nordens, eine Straße der Zwischenzeit. Sie ist nicht mehr, was sie war, und noch nicht, was sie sein wird. Was sie durch die 40 Jahre DDR war, wissen schließlich nur die, die sie schon damals – wir sagen schon: damals – bewohnt haben.
„Wir bauen für Sie“, schreibt eine Firma aus Homburg an dem Haus Ecke Rettigweg, „Stuckaltbau im Diplomatenviertel“, das klingt ein bisschen nach Ironie, die Diplomaten sind fern, weiter hinten, in der Esplanade, sind welche, sofern sie noch da sind. Oder schon wieder.
Ich gehe ein Stück des Rettigwegs aufwärts, links in der Pradelstraße liegt das Lutherhaus, ein evangelisches Verkündigungs- und Gemeindehaus; die Modernität seiner Fassade aus expressionistischen Klinkern hat Auswirkungen auf die Nachbarschaft, in der das angrenzende Haus sich erfreulich nahe der Moderne hält und ferne von der Post.
„Wir sind auf dem Hof“, meldet der Kindergarten, aber auf dem Hof, zu dem das Lutherhaus eine verputzte Wand zeigt, längst nicht so eindrucksvoll wie die Straßenfassade, ist niemand.
Die Fassaden gegenüber sind mit grünen und grünlich-blauen Drapierungen verhängt; das hätten wir vor Christos Reichstag nicht geglaubt, dass das Häuserverhüllen ein so allgemeines Gesellschaftsvergnügen werden würde, eine Notwendigkeit ist es doch nicht? Oder habe ich nur nicht aufgepasst und es war immer so und Christo nur ein Imitator?

Am Ende scheint sich der Rettigweg an der mit Glasscherben bewehrten Mauer des Keramikwerkes in der Ruhe des Vorstädtischen niederzulegen; da geht es rechts durch das Grün der Gaillard-Straße, das bald das Grün eines Friedhofs ist. Überall in Berlin gerät man schließlich in Friedhöfe. Es wird viel gestorben in der Stadt. Am Eingang ein dreiarmiger Ständer mit blechernen Gieskannen. An der Info-Tafel die derzeit auf vielen Friedhöfen zu lesende Ankündigung: „Zur Zeit wird die Standsicherheit überprüft“.
Ich leide an Bluthochdruck, mein Herz macht gelegentlich Sprünge, ich bin nicht sehr standsicher. Ich sitze auf der Bank am Mittelweg, einen Augenblick denke ich: Hier möchte ich sitzen bleiben, in dieser städtischen Ruhe, zusehen, wie sich die Gegensätze vereinigen.
Es läutet 12; vier alte Frauen gehen fast gleichzeitig zum Ausgang, als ob sie nun Mittagspause hätten, Mittagspause des Gedenkens. Leisten sie hier Erinnerungsarbeit? Oder Gärtnerei? Wie die Mauer: Sollten wir auch „unsere Lieben“ lieber vergessen, wenn sie gegangen sind? Die Pflege der Schädelstätten als Beschäftigung begreifen, allenfalls als soziale Verpflichtung, aber nicht als Gedächtnisarbeit? Die Toten waren niemals hier, die Toten sind nirgendwo, wo Erde ist und Grün.
Nach der fast eleganten Biegung, die die Straße bei Nr. 16 macht, gehe ich auf die Kleingartenkolonie Famos zu. Hier, hinter einem kleinen bezirklichen Rosenbeet, liegt ein kleines türkisches Bistro. Bliebe ich hier noch etwas länger sitzen, erführe ich noch mehr aus dem Leben des Arbeitslosen am Tisch hinter mir, den der freundliche türkische Wirt aufzuheitern versucht.
Am Lebensmittelgeschäft um die Ecke ist angesprayt: „Tod dem Leben! Es lebe der Fernseher“, als ob die Kids gestern schon gewusst hätten, was ich unten in der Wollankstraße heute gedacht habe. Die Brehmestraße zieht hier zwischen Kolonien entlang; an der weißen Laube ein Rehgeweih, als ob hinten Wälder wären.

Die Maximilianstraße führt mich unter der S-Bahn hindurch, ruhig, doppelt baumbestanden, zwischen kleinen Vorgärten, Schmuckkeramiken an den Fassaden zur Rechten. In der Brixener Straße denke ich, weil ich vorhin über die Vereinigung der Gegensätze räsonierte, an Nikolaus von Kues, der aus der „Vereinigung der Gegensätze“ eine philosophische Kategorie machte: „Coincidentia oppositorum“: In der hier ihrem Namen ausleihenden Tiroler Stadt war der Kardinal Bischof, vor einem halben Jahrtausend. Wir können ihn vergessen, „Von der gelehrten Unwissenheit“ hieß sein Hauptwerk.
Damit komme ich, vorbei an einer Schule, über deren Äußeres Frau Stahmer sich schämen muss, auf den Andreas-Hofer-Platz. Für Berliner Verhältnisse ist das ein Berg, ein hoch gelegener Spiel- und Ruheplatz, hinten die Skyline der Bornholmer Straße. Ich sitze da und spiele mit Gedanken über den Sandwirt: „Zu Manitu in Banden der treue Hofer…“, treu? Wem? Aber auch vernünftig? Wenn die Franzosen ihn nicht erschossen hätten, lebte er gewiss nicht mehr. Und hier, in Pankow, schon gar nicht.
Dann steige ich ab zur Esplanade. Sie sieht aus, wie sie heißt. Man sieht nicht, dass sie im Süden PrenzlBerg, sonst Pankow ist. Zur Berliner Straße hin stehen hier die Häuschen, die jetzt offenbar Stück für Stück das Diplomatische mit dem Medizinischen vertauschen; aus Botschaften werden Ärztehäuser. Ein paar Kleinbotschaften sind aber noch da, Tunesien, der Libanon, Indonesien, allerdings auch Brasilien: Außenstellen, heißt das zur Zeit, bis Berlin endgültig aufgehört hat, außen zu liegen.
Gleich links geht es hinab: U-Bahnhof Vinetastraße. „Ruhleben“ heißt die Richtung. Das ist auch so ein Name.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Gerd Danigel , ddr-fotograf.de, CC BY-SA 4.0

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