Umspannende Umspannwerke

Mit der erneuerten Ringbahn S4 zum friesenblauen Bahnhof Treptower Park. Es ist fast Vorfrühling. Erst als ich auf dem zugigen Parkweg bin, knöpfe ich den obersten Knopf der Winterjacke wieder zu.
Manfred Jagusch, unser Fotograf, findet die Spree liederlich. Sie liegt so breit und bräsig in ihrem Bette. Vor mir, weiß, grün, gelb und buntbewimpelt MS Helene: Mittwochs und an den Wochenenden Ausstellung über die prospektierte „Wasserstadt Stralau“.
Weiter hinten, in Alt-Stralau, hat sich Karl Marx als junger Mann von Hegel zu erholen versucht. So weit komme ich heute nicht nach Osten, nach links.
Vorne in Alt-Stralau, fast Ecke Markgrafendamm, in den ich jetzt gegenüber dem „Neuen Deutschland“ einbiege, hat Ludwig Renn gewohnt. Um unter denen zu leben, sagt man, über die er schrieb. „Eine Familienliebe, die gibt es nicht. Das ist ein Schwindel. Auch ehemalige Kameraden liebt man nicht. Ich habe nur immer die geliebt, mit denen ich zu tun hatte. Andere haben ihre Familie, ihre Partei, ihren Skat. Freilich, wenn man eine Partei hätte, an die man glauben könnte! Gibt es die?“
Damals – Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre – war die Elsenbrücke noch nicht da. Jetzt ist es hier noch lauter, lebhafter. Der Markgrafendamm heißt nach einem, dem Friedrichsfelde gehörte und der manchmal dort hin wollte, in einer Geschichte, die keine Erinnerung mehr nötig hat.

Am östlichen Markgrafendamm siedelt Kleingewerbe, zum Teil unter originellem Namen: KGB – Kohlen, Gips, Bier, Unternehmen im Besitze der Belegschaft, die Sichel legt sich als Markenzeichen statt um den politischen Hammer um das bürgerliche Weinglas. Druckerei, Fahrzeug-Einrichtung für den mobilen Service. Typenoffene Kfz-Werkstatt.
Ein breites grünes Rohr erhebt sich über die Straße, ein säkularisierter Triumphbogen. Der Höhepunkt der Straße kommt jetzt, wo sie im U-Bogen scharf nach Osten biegt, unter der Bahnbrücke hindurch, an der Schrebergartenkolonie Osten II vorüber: Hinter der leuchtenden Plakatwand, die mit tiefblauem Meer für Griechenland wirbt, dicht an den südlichen Bahndamm des Ostkreuzes heran reichend: Das Umspannwerk, ein Bau der Industriemoderne, gerade neben dem Wohnhaus für Eisenbahnbeamte, das – ganz dicht am Bahndamm – unbewohnt, geschlossen nur noch ein Denkmal ist, ein Erinnerungszeichen an eine vorelektrische Zeit, in der sich die Eisenbahn hier als preußische Staatsbahn, noch ganz patriarchalisch gab.
Das Umspannwerk von 1928 beherbergt ein technisches Zentralstück der 1924-1930 elektrifizierten Stadt- und Ringbahn: Hier wird Drehstrom von 30.000 Volt in Gleichstrom von 800 Volt umgewandelt. Das Werk am Markgrafendamm hat ein Schwesterwerk, in Halensee, dicht an der Stadtautobahn heute, beide gebaut von Richard Brademann, Bauten von hoher architektonischer Bedeutung. Man kann nicht an ihnen vorbeisehen.
Was ist das? fragen die S-Bahn-Gäste, wenn sie neu sind auf diesen Strecken. Später denke ich, dass sie Bescheid wissen. Reihung, Symmetrie, Rhythmus drücke das Haus aus, meinte der Erbauer: Es zeige nach außen, was es von innen heraus leiste, umspannen, den Strom, die Elektrizität regulieren… ach Gott, ja: solches vegetative Denken war am Ende des expressionistischen Jahrzehnt Mode. Das ist vorbei.

Was Richard Brademann geredet und geschrieben hat, ist geschenkt, was er gebaut hat, steht höchlöblich da in seiner roten Klinker-Verkleidung: das viergeschossige Hochspannungshaus und das achteckige Schalthaus mit eindrucksvoller Deckenkonstruktion. Ich bin vielleicht 100 mal mit dem Auto vorbeigefahren. Da habe ich nichts gesehen. Der Fußweg lohnt sich. Fußwege lohnen sich in der großen Stadt aus den verschiedenen Zeitzonen fast überall. Man darf nicht auf Schönheiten aus sein, sondern auf Erkenntnis. Etwas erkannt haben, heißt nicht unbedingt, dass man hinterher schlauer ist. Aber man hört mehr Stimmen. Die Stadt spricht leiser und lebhafter.
Hinter mir werden – polnisch, türkisch, deutsch – drei Sprachen lebhaft gesprochen, als ich die westliche Treppe zu dem Übergang hinauf steige, durch den man über die Gleise von Ostkreuz hinüber ins nördliche Ein- und Ausgangshaus gelangt, als ob man den Markgrafendamm geradeaus gegangen wäre: von der Elsenbrücke in die Neue Bahnhofstraße; an der Ecke zur Simplonstraße beginnt sie mit einem namenlosen Platz in einer schnell veränderten Stadtgegend, der jugendstilige Wasserturm von Karl Cornelius steht – eisenbahntechnisch überflüssig – drüben auf der anderen Seite und macht der liederlichen Spree sein obszönes Angebot, auf das sie schon lange nicht mehr antwortet.

Die Neue Bahnhofstraße ist eine Avenue dichter Fassaden, die vom Eckhaus Nr. 1 bis ins letzte spitzwinklige Eckchen vorgerückt werden: als ob es wie auf der Theaterbühne um Dekoration ginge.
Mit ihren Nummern 9 bis 17 erlebt diese Straße einen bau- und industrie-geschichtlichen Höhepunkt: das Verwaltungsgebäude der Knorr-Bremse AG. Man kann die Geschichte der Eisenbahn als eine Geschichte der Bremskonstruktionen erzählen: von der Zweikammer-Druckluftbremse zur Einkammer-Schnellbremse, eben zu Knorrs Erfindung, nach der ihm die Produktionsstätten wie von selbst emporwuchsen.
Das prächtige Verwaltungsgebäude ist von Alfred Grenander, dem künstlerischen Leiter der Hochbahn-Gesellschaft, der hier von den romanisch mächtigen Säulenvorbauten bis in die Büros und in die Toiletten seine hierarchische Werkbund-Gesinnung ausleben durfte: Je höher der Chef, umso wertvoller die Materialien für seinen Schreibtisch und sein Urinal.
Weiter oben werden die Gehwege der Neuen Bahnhofstraße schwierig für einen, dem die Füße schmerzen. Ich lehne mich an die Holzballustrade der Eislaufbahn am Ring-Center, als wollte ich den jungen Leuten zusehen, aber ich muss bloß eine Pause machen, damit meine Füße sich erholen.

In „Fantasia del Gelato“, einer in branchenüblicher Grellmalerei ausgestatteten Eisdiele mit sehr anständigem Angebot, beklage ich meine Zuckerkrankheit und beginne beim eislosen Milchkaffee diesen Text zu schreiben, ehe ich zur Schienenbahn zurückkehre, die mich von der Frankfurter Allee fast bis nach Hause fährt, am oberen Kurfürstendamm.
Es sind nur ein paar Schritte vom S-Bahnhof Halensee: Ich betrachte Brademanns anderes Umspannwerk, als brächte ich ihm Grüße vom Markgrafendamm.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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