Christine, Lottum

Die Lottumstraße ist eine kleine Straße, gerade noch in Prenzlauer Berg, dann kommt südwärts noch die hinter der Choriner Straße abknickende Zehdenicker Straße, dann beginnt Mitte. Inhaltlich – wenn man das von einer Straße sagen kann – ist aber auch die Lottumstraße Mitte. Sie erzählt Geschichten, die – wir Juristen sagen: materiell – Mitte-Geschichten sind, Geschichten aus der Mitte des Berliner Lebens, wenn auch einige davon gerne vergessen werden.
Die bevorzugte Stelle dieser Straße ist da, wo sie sich mit der Christinenstraße kreuzt. Wenn ich dort, an diesem schönen Platz, der wirklich nur eine Straßenkreuzung ist, verweile, fühle ich gerade zu, sehe nicht nur, dass die Christinenstraße und die Lottumstraße hierher aufsteigen, um sich dann – als seien wir ganz woanders, vielleicht in Paris – zum Teuteburger Platz zu erheben, an dem jetzt Kaiser’s Verbrauchermarkt eine beherrschende Rolle spielt.

Die Lottumstraße macht hier einen Wohnzimmer-Eindruck, sie hält den Raum geschlossen, so dass ich mich für die Knaben sogleich verantwortlich fühle, die einen überflüssig gewordenen Autoreifen auf die Straße rollen und sich selbständig machen lassen zur Torstraße hinunter. Gefährlich, aber es wirkt auf mich spielerisch, ich möchte lächeln, statt: Halt! zu rufen: Was macht ihr denn da!
Die Lottumstraße ist eine bunte Straße und wird immer bunter, manche Fassaden sind von kreativer Farbigkeit. So haben die Häuser im 19. Jahrhundert nicht ausgesehen. Cid Kreole heißt ein Cafe im Hof, die „Freie Kunstschule in Berlin“ kündigt sich an, Bandito Rosso Zeitschriften-Archiv: Solche Stadteindrücke nannten wir in früheren Zeiten alternativ, meinten: anders als anderwann.
An der Wand: „Republikaner raus“, gut, einverstanden, „Fuck the police“, na ja, in englisch bedeutet das vielleicht etwas anderes, als wenn man’s ins Deutsche übersetzt, „Bullenterror“, „Die Häuser gehören uns!“, „Leg doch dein‘ Vermieter um“. Wie ich mich zu einer solchen Sprayparole einstellen soll, das frage ich mich, während ich – aus der U-Bahn am Rosenthaler Platz durch die Zehdenicker und Choriner Straße hier her gewandert – nun die vier Eckhäuser betrachte, die Lottum- und Christinenstraße zugleich flankieren: Tore nach Ost-West und nach Süd-Nord.

Bring‘ deinen Hauseigentümer um, das ist ja hier fast wörtlich auch früher schon gesagt und nachher auch getan worden, wenn es auch vielleicht nicht Mieter waren, die die Eigentümer von Christinenstraße 35 vertrieben haben vor 60 Jahren mit dem blau-grünen Erkerbalkon in der Beletage. Die Familie Süssmann, habe ich gelesen, lebte seit mehr als 300 Jahren in Berlin, lange hier, in der Lottumstraße; seit Ende des 18. Jahrhunderts ein Feldweg zum Vorwerk vor dem Schönhauser Tor, 1860, als sie den Namen erhielt nach einem konservativen preußischen General, Minister und Grundeigentümer: drei Häuser, und dann dauerte es nicht mehr lange, denn die Spekulanten tobten sich aus, bis sie dicht an dicht bebaut war in geschlossener Fassadenfront, wie sie sich heute noch zeigt.
Nr. 35: Süssmanns Haus, Silbermanns, Löwenthals: eine jüdische Familie. Unten im Haus, wo jetzt der „Mädchentreff Lotte“ firmiert, hatten Gabriels ihren Kolonialwaren-Laden. Gabriels, Nichtjuden, hörten nicht auf, Menschen zu sein, als andere Deutsche Nazis wurden. Aber andere Deutsche – und wahrscheinlich die meisten – halfen mit, dass in der Christinenstraße 35 und gegenüber Wege begannen, die in Auschwitz endeten, im deutschen Gas. Eine Nachfahrin lebt noch, lebt wieder hier, glaube ich; es berührt mich, das Namensschild an der Klingel zu lesen.

Gegenüber in der Lottumstraße 22 hat Bertha Falkenberg gewohnt, mit ihrem Mann, ihrer Familie, die Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht in der jüdischen Gemeinde; erst seit 1926, acht Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts im politischen Deutschland, durften jüdische Frauen auch in der jüdischen Gemeinde wählen, da war nicht mehr viel Zeit, bis die politischen Unterschiede in der großen Judenschaft Berlins hinfällig wurden, schöne Probleme von gestern. Bertha Falkenberg überlebte, diese Lottum-Straßen-Geschichte endete nicht mit Mord, aber auch sie nicht im Guten.
Der Regen nimmt zu. Einen Augenblick lang, während ich den nach Hause trödelnden Schulkindern nachsehe, die ihren Unsinn treiben, denke ich: Nichts kann wirklich gut werden in dieser Stadt Berlin, in Deutschland, für den, der sich erinnert. Soll man aufhören, sich zu erinnern? Was vorbei ist, sei vorbei? „Heute kann nicht gestern werden“, hat der Reformkanzler Hardenberg gesagt, unter dem Lottum, der Straßennamensgeber, zur politischen Entlastung Minister wurde.
In der Lottumstraße Nr. 22, habe ich gelesen, hat auch ein Mann gewohnt mit dem Namen Julius Scherf, ein Sozialdemokrat, führender Gegner der Verschmelzung von SPD und KPD; im Juni 1946 verhaftet, nach Oranienburg gebracht, neue Besatzung im alten KZ, dort umgebracht 1947 oder 1948. Da war die große Judenverfolgung erst zwei oder drei Jahre vorbei.
Ist jetzt, heute Frieden in der Lottumstraße, sind die Nachbarn wirklich Nachbarn und werden morgen nicht Gleichgültige, Denunzianten und Mordgehilfen sein?

Ich gehe auf den Rosa-Luxemburg-Platz zu, wo ich in die Unterwelt der U-Bahn hinab steigen werde. Auch Rosa Luxemburg war Jüdin. Auch ermordet. Auch Jesus Christus, dessen Stellvertreter auf Erden nachher verkünden lassen wird, dass er immer noch nicht in der Lage ist, das, was den Juden von uns und unter uns geschehen ist, mit dem einfachen Namen der Wahrheit zu benennen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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