Nah und fern, groß und klein

Der U-Bahnhof Rathaus Spandau hat etwas Morgenländisches. Kann das sein? Oder nur etwas Kunstgewerbliches? Jedenfalls ist er sauber und ansehnlich. Mir ist er neu. 25 Minuten von Berlin City nach Spandau City – das gibt es erst seit 1984. Meine eigene Spandauer Zeit lag davor. Die U-Bahn fährt mich einen sentimentalen Weg, sentimental journey to Spandau.

Ich fühlte mich. Ich war Kammergerichtsrat geworden. Das war 1970, anderthalb Jahrzehnte vor der U-Bahn; ich trug einen blauen Anzug mit silbergrauer Krawatte, die 68er Kulturrevolution hatte ich auf der falschen Seite erlebt. Oder auf der richtigen. Jedenfalls auf der, auf der man nicht zum 68er wurde. So kam ich nach Spandau. An mich kann ich mich nicht mehr erinnern. An Spandau noch gut. Manfred Jagusch wollte das Amtsgericht nicht fotografieren. Es ist nichts dran an dem Gebäude, sagt er. Da hat er recht; ein architektonisches Juwel ist das rechtwinklige Gericht am Altstädter Ring nicht. Dort – in den oberen beiden Geschossen – leitete ich das Ausbildungsreferat des Kammergerichts; am Lietzensee war nicht Platz genug. Die jungen Hamburger Justizbeamten kamen zu uns. „Sie müssen Hauptstadtluft atmen“, sagte der Hamburger Justizsenator. Die Berliner Hauptstadtluft war Spandauer Luft. Die jungen Hamburgerinnen und Hamburger fühlten sich wohl in Spandau. „Nahe an Berlin und doch nicht Berlin“, sagte ein junger Hamburger aus Ahrensburg, nahe bei Hamburg und doch nicht Hamburg. In der Wilhelmstraße lebten noch Staatsgefangene. Sie verbanden nicht Spandau, sondern die BRD mit einer Vergangenheit, die sich nicht hinwegwünschen lässt. An diesem freundlichen Donnerstag, die Treppen aus dem U-Bahnhof heraufsteigend und auf den vertrauten Anblick des Amtsgerichts wartend, trage ich an meiner eigenen Vergangenheit schwerer als an der Deutschlands. Als der Staat derer unterging, die hinten in der Wilhelmstraße in einem Gemäuer, das es nicht mehr gibt, für das Nichtabzubüßende büßten, war ich erst 10 Jahre alt. An den Staatsverbrechen, von denen man bei Gott nicht sagen kann, dass sie in Spandau zu Ende gingen, habe ich keinen Anteil. Spandau ist für mich glückliches Nachkriegsland. Eine geordnete Welt. „Alle Vorteile von Berlin und keinen seiner Nachteile“, sagte ein Amtsrichter, der uns damals viel half. Spandau lag für mich in gesichertem Gelände. Da liegt es immer noch.

In der Eingangshalle des Amtsgerichts, in der jetzt die Erinnerungen auf mich herunter stürzen, gehe ich auf und ab, lese die bebilderten Ankündigungen von Zwangsvollstreckungen, die ehemalige Studenten von mir unterschrieben haben. Wichtigtuerische Aufkleber verweisen auf einen „blauen Aushang an der Bekanntmachungstafel“, der nirgends zu finden ist. So ist die Justiz. Sie gibt Anweisungen und guckt selbst nicht hin. Eine besorgte Tafel warnt: „Vorsicht Bodenglätte“. Ich gehe außen um das Gericht herum. Damals habe ich die Justiz nicht von hinten betrachtet. Die bezirklichen Gärtner sind eifrig. Es riecht angenehm nach frisch geschnittenem Gras. Warum kann das Gartenamt mit zweitem Namen nicht „Wiesenamt“ heißen? Das hier ist doch eine schöne Wiese und keine Grünfläche. Kinkel gegenüber, in dessen Straße ich über die Stephanbrücke gelange, wird tatsächlich ein „Dichter“ geheißen; was der Professor gedichtet hat, war ganz fürchterlich, Kitsch, das kann man vergessen; und sein späteres, fast antisemitisches Philosophieren vergisst man wohl besser auch; aber er war ein Radikaler im öffentlichen Dienst, den der Staat ungerecht verurteilt hatte. Spandau war der Ort seiner Befreiung, die Gefängnisbeamten ließen sich von Carl Schurz bestechen, glücklicherweise, und manche mussten gar nicht bestochen werden, weil sie ihren Staat ungerecht fanden. Das kann man nicht unter der Schulbuchbezeichnung „Dichter“ verstecken, denke ich, während ich an den Kastanien vorüber gehe, auf die ich so oft geblickt habe, aus dem Gericht gegenüber, dass ich sie persönlich kennen müsste. Eine schöne junge braune Frau geht vorüber mit grün geschminkten Fußnägeln und gelben Uhren an den schlanken Armen. Mir hüpft das Herz. Kinkel versinkt. Die Marktfläche steigt nach Osten leicht an und schon denke ich an Siena. Ich sitze draußen bei Fester: wirklich ein echtes Kaffeehaus, nicht nachgemacht. „Nächste Glückradsverlosung 15 Uhr“ hat ein Reiseveranstalter nebenan angeschrieben.

„Ick muste die Aktion auf 15 Uhr verschieben“, erklärt er seiner Kollegin; „weil hier in Spandau zwischen 13 und 15 Uhr geschlafen wird. Hat der Stadtrat gesagt. Mann, man fasst sich an’n Kopf“. Ich gehe langsam um den sonnigen, geschäftsbelebten Platz. Gegenüber den steinernen Wellen an der Westseite setze ich mich auf ein Mäuerchen. Die Stimmung ist ruhig, zivilisiert, kommunikativ. Man kommt leicht ins Gespräch mit den Leuten in Spandau. Die aus einer Dose biertrinkende Frau neben mir unterhält sich freundlich mit Leuten, die nicht da sind. Das Glockenspiel klingt. Wählt den Whopper, steht drüben angeschrieben. Energisch aussehende Studienrätinnen eilen vorüber, die Schule haben sie hinter sich, jetzt brauchen sie frische Kräuter für das Familienmahl. Sie haben alles im Griff. Die männliche Monokausalität des Alltages ist ihnen fremd.
„Was schreiben Sie denn da? Ich beobacht Sie schon die ganze Zeit?“ spricht mich jetzt die Biertrinkerin an. Ich lese ihr vor, was ich eben geschrieben habe.
„Wie war das lange Wort?“
„Monokausalität“
„Toll!“ sagt sie, jolles Wort und wiederholt fast andächtig: „Monokausalität“.
Ich fühle mich gut verstanden, Spandau tut gut.

Hinüber zum Reformationsplatz ist es nur ein kleines Stück. Auch da ist ein einladendes Café. Im Schatten der Kirche sitze ich dort in einer Art von Ruhe, die es nur in den Städten gibt, die laut sind. In Wirklichkeit ist der Kurfürst, der in seinem kurzen Mäntelchen dort auf seinem Sockel steht, nicht hier, in St. Nicolai, zum wittenbergischen Glauben, wie er sagte, übergetreten, sondern im Dom zu Berlin. Und es lag ihm auch daran, es beiden Konfessionen recht zu machen, der Kaiser und Luther fanden seine Kirchenordnung beide in Ordnung. Der Freiherr von Stein sitzt ohne Unterkörper auf der Treppe, die Eule der Minerva in Po-Höhe. Es ist sehr schön hier. So wenig ab vom Markt, und doch eine ganz andere Stimmung. Ich fühle mich aufgehoben und angenommen, obwohl ich mit niemandem viel gesprochen habe. Die Stadtatmosphäre ist angenehm. Das kann nicht nur am angenehmen Sommerwetter liegen. Es liegt an der Stadt, die über das Große Bescheid weiß und über das Kleine.
Im U-Bahnhof Altstadt beginnt mein Rückweg nach Berlin.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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