Bezirksberge

Ich stehe immer noch auf der Admiralbrücke. Oberbaum, schrieben uns viele Leserinnen und Leser:
Oberbaum soll der neue Bezirk aus Friedrichshain und Kreuzberg heißen.
An der Admiralbrücke liegt nicht die Mitte von Oberbaum im Wasser des Landwehrkanals, am Urbanhafen. Ich war von der südlichsten Stelle Oberbaums gekommen, sie liegt am Columbiadamm, wo eine deutsche Folterstätte gestanden hat, ein wildes KZ. Ein rostiges Eisenmal an der Ecke Columbiadamm/Golßener Straße erinnert daran und wird leicht übersehen.
Mit den Denkmälern ist das überall in Deutschland so eine Sache. Die Geschichte vergeht schneller als die Steine zerbrechen und das Eisen verrostet. Ich will den Neubezirk – nennen wir ihn also Oberbaum – von seinem äußersten Süden bis zu seinem höchsten Norden durchwandern.
Vom Columbiadamm, von der rostigen Geschichtserinnerung neben der Polizeikaserne, bin ich im Rücken des mächtigen Kartell- und Zollamtsgebäudes, das die Architekten des Nazireichs um den Flughafen Tempelhof spätklassizistisch errichtet haben und an dessen Fassaden man noch Reste der Weltmacht-Träume ausmachen könnte, wenn man nicht alles vergessen hätte, durch die Schwiebusser Straße hinüber passiert auf den Kreuzberg.

Habe mich an das Denkmal gelehnt, das der Staatsarchitekt Schinkel für die Ideologie eines anderen deutschen Staats dort oben errichtet hat; es liegt hinter dem Grau der Renovierungsplanen; Kreuzberg, das Eiserne Kreuz, Auszeichnung fürs Umbringen von Menschen, Befreiungskriege, die die meisten Hiesigen von der Freiheit befreiten; einige von denen, die später gegen diesen Befreiungstrug aufstanden, ruhen drüben am Friedrichshain, in der anderen Himmelsrichtung des Bezirks. Ich will jetzt noch hinüberwandern, vom Kreuzberg zum Friedhof der Märzgefallenen, von 1815 nach 1848 – die Leute, die hier wohnten und wohnen, waren jedesmal die Dummen.
„Genau am letzten Tag des Krieges ist unser Haus in der Möckernstraße zerstört worden“, sagt die 94-jährige; ihre Enkelin aus Südafrika schiebt sie im Rollstuhl durch den Viktoriapark. Die Möckernstraße heißt auch nach einer Schlacht, einem Ort, an dem die Fürsten das Volk geschlachtet haben. Was heißt da „Befreiungskrieg“?
So viele Orte gibt es in Berlin, an denen an „Helden“ gedacht wird. Helden – das sind Tote; Menschen, die gestorben sind für Ziele, die nicht die ihren waren.
Die beiden Kirchen am Ende der Bergmannstraße, eine evangelische, eine katholische, nannten sich Garnisonskirchen, Soldatenkirchen, Gott war auf Seite der Generäle; ist er jetzt übergetreten auf unsere Seite? fragte ich mich, als ich in der Sommersonne im Café „Wunderbar“ saß am Südstern und dann hinüberwanderte, das Urbankrankenhaus zur Linken, immer durch Kreuzberg, zum Landwehrkanal.

Auf der Admiralbrücke blieb ich eine Weile am Geländer lehnen. „Das ist eine der schönsten Stellen der Stadt“, habe ich in einem Kreuzberg-Spaziergang geschrieben, „Von Pol zu Pol“ hieß dieser Text, weil ich damals schon hatte weiterwandern wollen, über die Schillingbrücke, unter der vielleicht die Mitte von Oberbaum im Wasser liegt, hinüber nach Friedrichshain bis in den Friedrichshain, hinauf auf den anderen namhaften Bezirksberg.
Der Neubezirk Oberbaum wird Berlins Berg-Bezirk sein. Im Süden der Kreuzberg, von dem ich jetzt herkomme, im Norden der kleine und der größere Mont Klamott, die Bunker- und Trümmerberge, im Park des Volkes.
Im Classic-Café am Strausberger Platz mache ich Halt. Manche Gäste kenne ich schon. Manche DDR-Erinnerung sitzt hier. Hat es die DDR überhaupt gegeben?

Oberbaum wird der einzige Neubezirk sein, fällt mir jetzt auf, der – wie unsere Stadt Berlin überhaupt zusammengesetzt ist aus Ost und West. Vielleicht ist es deswegen auch der einzige Neubezirk, für den sich so schnell ein neuer Name findet: Oberbaum, nach einer Brücke, nicht nach dem Baum, der auf dem Wasser die Stadt begrenzte.
Während ich durch die Strausberger Straße auf den Friedrichshain zugehe, hoffe ich, dass die Schüler des Fried-Gymnasiums Erfolg haben werden mit ihrem Umbenennungsvorschlag: Zinnastraße statt Strausberger Straße.
Mein Vater war der Sohn eines Glasermeisters. 1915 lag er in einem Schützengraben in Frankreich, 17 Jahre alt, in den Pausen las er in dem Buch „Der Vorkampf“, auf Seite 165 steht die Geschichte von Ernst Zinna; die Geschichte seines Todes; an der Barrikade in der Jägerstraße erschossen ihn 1848, am 18. März, preußische Soldaten, die arme Leute waren wie er; da war Ernst Zinna 17 Jahre alt, so alt wie mein Vater, der, seine Geschichte lesend, nur ein Wort in dem Buch unterstrich, das ich jetzt in der Hand habe: „Schlosserlehrling“.
Nach Generälen und Fürsten heißen so viele Straßen in Berlin, in Kreuzberg haben manche Generäle sogar zwei Straßen nach zwei Namen, hier könnten wir durch die Straße eines Schlosserlehrlings gehen zu dem Platz, an dem er begraben ist, im Friedrichshain. Genützt hat es nichts. Die Menschen gewöhnen es sich nicht ab, sich gegenseitig tot zu schießen.
Das Volk stellt die Gefallenen, habe ich in meinem letzten Spaziergangstext für Friedrichshain geschrieben. Zum Beispiel die Hiesigen, die Märzgefallenen. Niemand erinnert sich wirklich an sie. Vielleicht stimmt das nicht. Das Fried-Gymnasium, das überhaupt seinem Namesgeber Ehre zu machen scheint, steht auf der Seite des Lehrlings.

Mit versöhnlichen Gedanken durchquere ich also über die Berge den Friedrichshain und erreiche über die Margarete-Sommer-Straße, die nach einer aufrechten Lehrerin heißt, den nördlichsten Punkt von Oberbaum. Das wird ein schöner Bezirk, denke ich, er vereinigt vieles, was zusammengehört. Wenn man es zusammengehörig macht.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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