Auf beiden Seiten der Spree

Der S-Bahnhof Baumschulenweg ist wirklich mittendrin. Links und rechts ist Berlin, wie es im Buche steht. In vielen Büchern steht zwar nicht, wie es gerade hier aussieht. Aber kein Fremder, der in Baumschulenweg aus der S-Bahn ausstiege und die Baumschulenstraße in Richtung Köpenicker Landstraße ginge, würde darüber im Zweifel sein, dass er in Berlin ist.
Die baugeschichtliche Sensation kommt Baumschulenstraße Ecke Köpenicker, Nordseite, östlich der Neuen Krugallee. Jedem fällt die hoch ragende Rundung sofort in den Blick, mit der der Zirkus – wie die Bewohner sagen, an die Köpenicker Landstraße zugleich vordrängt, wie von ihr zurückweicht. Aufmerksamkeit auf sich zieht und sie gleich wieder abweist, wie man ganz deutlich erfährt.

Diese seit der Fertigstellung im Jahre 1930 buchberühmte Wohnanlage glänzt durch ihre Fassaden, schließt aber ihren Innenhof so dicht ein, dass man durch die vergitterte Autoauffahrt neben der Pizzeria nur ein kleines Stückchen hinein sehen kann. Vollständig kann man den Hof nur mit Genehmigung von Herrn Danne sehen, „Danne wie Tanne“, sagt der Hausmeister, der seine Sachsen offenbar kennt. Die meisten Bewohner wohnen schon lange hier.
Die alte Frau, die Herbstblätter vom Eingang fegt, wohnt hier vielleicht von Anfang an, denke ich, hat hier die Liebe erlebt, die Kinder, die kamen, heranwuchsen und fortgingen, dann den Tod des Gefährten, Hindenburg, Hitler, Honecker, jetzt die, deren Namen sie sich nicht mehr merkt. Später sehe ich sie am Wasser, am Sackgassen-Ende der Baumschulenstraße; tief niedergebeugt fegt sie mit einem abgebrochenen Zweig auch hier, wo die gefallenen Blätter alles ausfüllen, Blätter beiseite, die der Wind gleich zurück weht.

Der Architekt der wasser- und parknahen Wohnanlage zwischen Neuer Krugallee, Baumschulenstraße, Köpenicker Landstraße und Rodelbergweg hieß Paul Rudolf Henning. Er kommt auch in Siemensstadt vor unter den Stars der architektonischen Moderne. Zeitgenössische Kritiker dieser Moderne, die die langen Fassaden-Bänder monoton finden, nehmen Henning aus, keine „Engros-Mentalität“ bei ihm, er baut wie es die Örtlichkeit erfordert.
Die Köpenicker Landstraße war immer verkehrsreich, also laut, und wurde immer lauter, einen abgeschlossenen Innenhof weiß man da zu schätzen; 2 1/2 und 1 1/2 Zimmer-Wohnungen hinter Fassaden, die Eigenart haben, sodass jeder, der hier wohnt, mit einer gewissen Erhabenheit sagen kann: Hier wohne ich.
Die Farbigkeit der Fassade ist elegant. Nicht so bunt, wie Taut sie gemalt hätte, dem man manchmal auch entgegenhalten möchte: Architektur ist nicht Grafik. Einen Zirkus würde ich Hennings Anlage nicht nennen, eher ein Schloss, sie vermittelt ein exquisites Gefühl. Sie lobt den Wohnungsbau der ersten deutschen Republik, die zweite kommt da bisher nicht mit.
Ich wandere um den Block herum, zur Köpenicker bietet er eine Gardinen-Ausstellung, viele Topfpflanzen auf den inneren Fensterbrettern. Von der Spreeseite, wo Sportplätze liegen, rückt der Herbst heran. Ich kann die Alte verstehen, die fegt: Man möchte etwas tun gegen das Vergehen.
Hinnehmen ist aber das Beste, wenn das Ende kommt. Jetzt das Ende des Sommers. Das Grün zieht sich aus den Bäumen zurück. Das gefallene Blatt ist schon Erde. Dunkle Parkerde tritt am Ende der Baumschulenstraße hervor, wo der schöne Uferweg beginnt, der erst hinter dem Rosengarten bei den Schiffen endet.
Im Plänterwald hat man vorgestern einen wilden Wolf gesehen. Er wird Angst haben vor den Menschen. Ob er über den Winter kommt?

Die gelben Blätter sinken langsam ins dunkle Wasser der Spree, über das die Enten und die Blesshühner heran schwimmen, als sie mich auf den Anlegesteg der Fähre kommen sehen. Sie zwitschern erwartungsvoll und verführerisch. Was ich hätte, wäre nicht gut für sie, sage ich, sie drehen ab, als verstünden sie meinen doppelten Konjunktiv. Im weiten westlichen Bogen kommt die BVG-Fähre heran, F11, alle zwanzig Minuten, Fahrzeit zwei Minuten.
Heute ist das eine merkwürdige Stelle für eine Fähre. Sie hat aber Vergangenheit; hinten lag der Rundfunk der DDR. Jetzt ist sie nur für die Kolonisten da, die am Köpenicker Ufer der Spree in Wilhelmstrand und Oberspree wohnen, immer oder an den schönen Tagen. Pflanzer- und Siedler-Verein seit 1906.
Ein junges Mädchen kommt über das holprige Pflaster entgegen, einen Moment lang kann ich mir einbilden, dass sie mich abholen will. Sie umarmt aber das Mädchen, das mit mir am anderen Ufer gewartet hat, sie gehen den Schwarzen Weg hinunter, um ihre Laube zu finden, die sie vielleicht Datsche nennen.
Aus jeder Kleingarten-Anlage kann man etwas lernen, was nicht gelehrt wird. Wie nämlich die Ästhetik des Volkes wirklich beschaffen ist und was aus dem Eigentum wirklich heraus wächst, wenn man den Leuten nur das Verfügungsrecht gibt und sie lässt. Wenn die Leute in Ordnung sind, kann man sich hier gut verbergen; wenn nicht, fliegt man gleich auf.
Ich gehe gerne durch Kleingarten-Kolonien. Meistens packt mich irgendwann die Rührung. Manche Gartenzwerge – wirkliche und solche aus übertragener Bedeutung – sehen mich so treuherzig an.

Sie machen sich aber Mühe“, sage ich zu dem Alten, der mit seiner elektrischen Mähmaschine am langen Kabel das Grün weg mäht, das auf der Straße zwischen Sandweg und Pflaster gewachsen ist.
„Ordnung muss sein!“, ruft er und mäht gerade die fünf oder sechs Meter, die an der Front seines Gartens liegen, als ob man sehen sollte, wo Ordnung ist und wo nicht. Der Duft frischen Grases liegt in der Luft. Aber ist es nicht Todesgeruch?
An der Rummelsburger Landstraße verlasse ich Köpenick, die gemauerten Häuser an Fuchsbau und Oskarstraße gehören schon Lichtenberg. Hier ist es auch schön, aber die Stimmung ist ganz anders. Berlin ist ein Chamäleon.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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