Kurzer Weg aufs Herz-Feld

Das Wort „Spaziergang“ klingt zu beliebig. Tatsächlich liegt mir Berlin auf der Seele. Man kann versuchen, in der Stadt einfach so zu leben, wie man auch in Hamburg oder München leben kann. Man lässt das Leben einfach vorübergehen, bis es zu Ende ist.
Der andere Lebensentwurf besteht dagegen in dem Versuch, Zusammenhänge herzustellen und Empfindungen miteinander zu verbinden: den Boden befestigen, über den man sonst so daherschlurrt, ohne zu merken, dass diese Fortbewegung nichts anderes ist als ein ständiges Stolpern und Stürzen.
Tasso können wir weglassen, den italienischen Dichter des 16. Jahrhunderts, aus dem Goethe ein größeres Genie gemacht hat, als er war. Ob in Weißensee viele Leute Torequato Tasso lesen oder auch nur Goethe… die Frage braucht uns nicht zu beschäftigen, wenn wir am Antonplatz der Tram Nummer 2 entsteigen.

Rechts und links der Tassostraße eine Bank. Deutsche und Berliner. Das ist ein zeitgerechter Straßenanfang. Aber wenn man richtig hinguckt, kann man an den Eingangshäusern auch noch was anderes sehen als die Bankinitialien. Hier beginnt ein Stadtquartier der ganz besonderen Art. Die Loggien der Häuser, die zurückgezogen, besäulten und gewölbten Balkone haben was Südländisches, jedenfalls was Überlegtes. Man sieht es auch dem langgezogenen S an, als das sich die Tassostraße über die Charlottenburger hinaufzieht bis zur Pistoriusstraße, hinter der der Straßenzug als Woelckpromenade um den Kreuzpfuhl herumführt, bis er schließlich an der Amalienstraße endet. Mit Tasso fängt es an – könnte man sagen -, um mit einem Schnapsfabrikanten (Pistorius) und mit der Geldgeberin eines Grundstücks-Spekulanten zu enden: Amalie Krauß – das war nämlich die Cousine des Hamburger Kaufmanns Schön, der nach Siebzig/Einundsiebzig hier bodenspekulierte, Amalie gab ihm Geld dazu und auch sein platzbenennender Bruder Anton: Diese Bodenspekulanten nannte man Gründer, weil sie Häuser gründeten auf grünen Wiesen und aus dem Boden ein Mehrfaches rausschlugen an Zins und Miete, als er in Korn und Stroh gebracht hätte. Rasche Verwandlung des dörflichen Weißensee in eine Berliner Vorstadt: 1880 1.500 Einwohner, 1909 fast 37.000, 1931 77.000. Erst die Spekulanten, dann die Kirchen; St. Joseph, katholisch, Behaimstraße, 1889; auftrumpfend: Bethanien am Mirbachplatz, evangelisch, 1900-1902, von einem Oberkirchenbaumeister, der auch anderswo solche Gottesburgen hinstellte, 65 Meter der Turm, der übrig geblieben ist aus den Zerstörungen des Jahrhunderts; eindrucksvoll wie die Gedächtniskirche am Kudamm; der Wind pfeift durch ihre Mauern.

Erst die Spekulanten, dann die Christen, dann die Reform. Woelck hatte eine Idee. Carl Woelck war 37 Jahre alt, als er nach Weißensee kam: Gemeindevorsteher, 15 Jahre lang, bis er resignierte. Er sah sich um unter dem, was die Gründer gegründet hatten: So würde Weißensee kein brauchbarer Teil von Berlin werden; man muss auf kommunalem Land bauen, damit die Kommune bestimmen kann, wie zu bauen sei: Nur Stadt und Staat sorgen für Kiez-Qualität, Quartiers-Gerechtigkeit… was für eine Idee. Der Staat! Gerade der! Aber immerhin in Berlin gibt es doch die Masse von Beispielen, welche politischen und rechtlichen Voraussetzungen aus einer sich entwickelnden Stadt eine Stadt machen, in der die Menschen leben können. Dieses Viertel um die Woelckpromenade, das manche Bücher Munizipal-Viertel nennen, Gemeinde-Viertel, ist ein solches Beispiel.
Der (Haupt-)Architekt hieß Carl James Bühring; auch ein junger Mann am Karriere-Anfang, als Woelck ihn als Stadtbaurat nach Weißensee verpflichtete, 1906; 1908 schon Pistoriusstraße 16, ehemaliges Ledigen-Wohnheim; wenn man die Tassostraße herauf kommt, leuchtet es einem heute noch (oder heute wieder) entgegen: eine tolle Backsteinfasssade, modern, ehe die Moderne richtig begonnen hatte.

Dann um die Ecke die Wohnhäuser an der Woelckpromenade und oben am See, sich im weiten Winkel öffnend, die Schule, die heute nach dem Architekten heißt, der sie aufgestellt hat als Zeichen für die ausgebreiteten Arme der Pädagogik. Nach Paul Oestreich heißt die begrenzende Straße; das war ein Lehrer, der führend daran mitwirkte, die Gründerzeit-Pädagogik aus den Schulen zu entfernen, die im ersten Weltkrieg ihre Schüler ganz wirklich getötet hatten.
Freilich hat auch die Reformpädagogik das neue Kindertöten nicht aufhalten können. Wir hatten in Lübeck einen Schuldirektor aus Oestreichs Verein der „Entschiedenen Schulreformer“, ein toller Mann, aber auch er rief uns in den 50er Jahren zu: „Als sie so alt waren wie ihr, waren meine Söhne schon Kompanieführer.“ Es war zu spät, diese Söhne zu lieben, die er – wie zuvor Friedrich Ebert die seinen – „für Deutschland“ hatte morden und sterben lassen.
Ich lehne an dem Mäuerchen, das die elegante Backsteinfassade der Woelckpromenade vom Kreuzpfuhl trennt, in dessen dickes grünes Wasser fünf Enten fünf offene Dreiecke zeichnen, Ich zeichne ein Pantagramm in den Sand, einen Drudenfuß, in einem Zug, um auf diesem Denk-Feld die Geister der Melancholie zu bannen, die aus den Ritzen der Historie umsteigen wollen auf die Fühl-Felder meines Herzens.

Im Haus Nr. 5 hat Wieland Herzfelde gelebt oder ist zwölf Jahre lang gestorben. Ist das hier eine End-Idylle? Ich nehme diesen Mann mit dem schönen, ein bisschen zurecht gemachten Namen als Beispiel. Ein sozialistisch-kommunistischer Intellektueller, Verleger, Schriftsteller. Schon als Embryo ein Flüchtling (aber das ist eine eigene Geschichte), 1947 ist das Fliehen zu Ende: „Mit ihm zusammen geht ein gewisser Ernst Bloch nach Leipzig, wo sie Professuren bekamen, auch mit Wohnung dabei“, schrieb George Grosz, der ein wirklicher Künstler war.
Ein mutiger Mann war Herzfelde wohl nicht. Man muss auch nicht mutig sein. Brecht brachte er in „100 Gedichten“ auf DDR-Correctness und gegen Heiner Müller schlug er sich mit anderen Namhaften auf die Seite der Dunkelmänner. Eigentlich war er für Geistesfreiheit. Dann war sie ihm aber doch nicht so wichtig wie eine schöne Wohnung mit Seeblick. Es ist gut, dass es eine Gedenktafel für diesen Ehrenbürger Berlins gibt im Angesicht einer Schule. Man kann von ihm lernen. Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt. Auf den Feldern des Herzens jedoch werden wir nicht nach den Lehrbüchern vermessen.
Auf der grünen Bank vor der Schule kann man sitzen wie in einem Fassadentheater. Rechts beginnt mit dem Wohnbau-Luisenhof eine neue Weißenseer Architektur-Zeit.
Sicheres Gelände. Es ist schön hier.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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