Sonniger Vormittag in Marzahn

Der Bahnhof Marzahn liegt auf der falschen Seite. Zwischen dem Bahnsteig und den Häusern liegen die Gleise und die breite Märkische Allee. Aber weil nun eine auf- und abzusteigende Fußgängerbrücke erforderlich ist, liegt der Bahnhof doch richtig.
Diese Brücke ist die erste Attraktion. Die Attraktion ist die Übersicht: über Autos, Bahnen, Hoch- und ganz hohe Häuser. Vorne links liegt die Post, die es schon bis in die Architekturbücher gebracht hat; die Architekten Eisentraut und Kny werden wegen ihrer Beharrlichkeit gegen „parteilich-planerischen Dirigismus“ gelobt, als ob die Häuser, die hier an einem ersten Innenplatz die Marzahner Promenade beginnen, weniger Aufmerksamkeit verdienten.
Wo das Tripel-Hochhaus mit seinen fast expressionistisch eingezogenen Balkon-Bändern in sorgfältiger Weiß-Grau-Abstimmung emporragt, ist der Mittelpunkt der größten Wohnbau-Siedlung Deutschlands, 1980 bis 1992: 62.000 Neubauwohnungen für 165.000 Menschen, oder zumindest der Mittelpunkt von „Wohngebiet 3“: 24.000 Wohnungen, 58.000 Menschen.

Die Sonne scheint vom blauen Himmel, der Herbst färbt die Bäume und Sträucher, Big City, Weltstädte zu Gast, wirbt der Kaufhof. Ich gehe die Promenade nordwärts, ein Innenplatz folgt auf den anderen, zur „Marzahner Apotheke“ hebt sich die Fußgängerstraße über breite Treppen an. Einen kühlen Moment lang sitze ich auf der Drahtbank, deren Muster sich, habe ich den Eindruck, in den Hintern eindrückt.
„Kommsde jetzt oder mussde erst noch pullern?“, redet die freundliche Frau im Rollstuhl ihren Hund an. „Fein hast du mir das gezeigt! Da kriegsde auch nen Kuss für“. Kleingruppen von Jugendlichen in gutgestyltem Blondhaar ziehen vorüber. Ein Alter mustert mich skeptisch, weil er mich schreiben sieht. Wörter sind verdächtig. Sie denunzieren. Die Pappeln rauschen. Ich sehe den Wolken zu, unter denen sich die Hochhäuser mitzubewegen scheinen, wenn man den Blick ein paar Augenblicke am obersten Stockwerk festhält.

Die breite Raoul-Wallenberg-Straße lässt die Wohnblocks drüben abseits erscheinen; aber wenn man drüber ist und die Wege direkt an den Häusern erreicht hat, ist die Atmosphäre wieder ruhig und fast intim. Über die Ludwig-Renn-Straße erreiche ich den „Wohngebietspark“. Das Wort hat kühlen, planerischen Klang, aber der Park selbst schmeichelt der Seele, die Häuser treten um ihn zurück und halten die Wiesen sanft zusammen.
An der Tram-Haltstelle Wohngebietspark quere ich in die Jan-Petersen-Straße hinüber. Die Straßenstruktur ist in Gebieten wie diesem unbestimmt, der Fremde, der ein bisschen träumt, hat eine Straße schnell verloren und findet eine gesuchte nicht.
Vor der Kita, die von den Wohnblocks schützend umschlossen ist, verweile ich einen Augenblick, um der Melodie der Kinderstimmen zu lauschen. Was hier nicht ist, ist Geschichte. Das empfinde ich als entlastend. Die Sackstraße wird durch einen inneren Hofweg fortgesetzt, der sich an einem pappelbestandenen Hügelchen entlangzieht. Während ich auf das blaue Haus zugehe, das diesen Innengarten abschließt, denke ich: schöner kann doch eine solche Hofanlage überhaupt nicht sein.

Ich folge einer mitteljungen Frau, die in forschem Schritt aus der Schule kommt und die ich für eine Lehrerin halte. Zwischen Sträuchern hindurch und über Wiesenstreifen scheint sie den direkten Weg über die Landsberger Allee zu kennen, über die die Autos rasen.
Da sehe ich die Mühle, eine Koppel mit Ponys, die zutraulich herantraben; zwischen dem Landhaus Marzahn und der Kontakt- und Begegnungsstelle „Das Ufer“ gelange ich direkt auf den Anger, der wirklich eine wellige bebaumte Wiese ist mit Straßen drumherum.
Vor der Kirche, die hier seit 1871 nach einem Entwurf von Stüler Gotik vorgibt, stehen fröhlich plappernde Schulkinder mit der Lehrerin, die sich schmale, strenge Augenbrauen gezogen hat.
„Ute!“, fragt sie drängend, „Wie hoch ist der Fernsehturm?“. Leicht und zirpend schlägt es vom Turm Mittag. „Drei-vier-voll!“, zählt die herbe Lehrerin, „aber glaubt nicht, dass da Menschen drin sind! Das machen sie mit Elektrisch!“. „Danke“ hat Gregor Gysi über sein Plakatbild kleben lassen, hier nebenan hat er sein Wahlkreisbüro, er ist hier der politische King. Ich sitze auf der Gußstein-Bank unter der Laterne und beglückwünsche Schneiders, die Zahnärzte, wegen ihres schön ornamentierten Landhauses.

Vielleicht ist es nur der Herbst, nur die Sonne: wie Berlin sich hier in Marzahn darstellt zwischen einem kleinen Gestern und einem großen Heute erscheint es mir – selbst wenn ich mir jetzt Nebel und Novemberregen einbilde – nicht nur der jüngste, sondern wirklich! – auch der modernste Teil von Berlin zu sein.

Wer Marzahn nicht kennt, kennt Berlin nicht. (Von Hohenschönhausen und der kleineren Vorgängersiedlung am Fennpfuhl habe ich das auch schon gesagt.)
Im heftig ausgestatteten kleinen Café am Ende von Alt-Marzahn beginne ich diesen Text zu schreiben, ehe ich mich mit der Tram Nummer 8 in einem weiten, umarmenden Bogen um die Siedlung herumfahren lasse bis zum S-Bahnhof Springpfuhl, wo ich endgültig begriffen habe, dass man nicht einfach sagen kann „Marzahn“, als ob alles eins wäre.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*