Die Tätowierung

Es ist immer wieder interessant, wenn ich Fahrgäste im Auto habe, die etwas vom alten Berlin erzählen können. Wie der US-Soldat, der in den 70er und 80er Jahren in Lichterfelde stationiert war und mit dem ich rund drei Stunden lang unterwegs war. Wir fuhren die Stätten ab, die er von damals kannte und zum Schluss noch zum einstigen KGB-Gebäude.
Der Mann aber, den ich gestern im Auto hatte, war viel älter. 1918 geboren hatte er die ersten Jahre in Berlin verbracht, im Prenzlauer Berg und in Pankow. Er war Jude, was er aber als Kind nicht bewusst wahrnahm, weil seine Familie säkular war. Synagogen besuchten sie nur, um Freunde oder Verwandte zu begleiten.
Trotz seines hohen Alters war der Mann sehr umtriebig, erzählte die ganze Zeit von den 40er Jahren, als er sich verstecken musste, erst in Berlin, dann auf einem Bauernhof in Mecklenburg. Ende 1943 haben ihn die Nazis erwischt, als er einen Besuch in Berlin machte. »Dabei sah ich doch viel arischer aus als dieser Österreicher mit seinem hässlichen Bärtchen«, lachte er.
Was dann für ihn folgte, war aber nicht lustig. Deportation nach Lodz, dann nach Auschwitz.
Plötzlich schob er den Ärmel seines Mantels hoch und zeigte mir die Tätowierung auf dem Unterarm – seine Nummer aus dem KZ. Ich habe so was zwar schon mal gesehen, vor vielen Jahren bei einer alten Freundin, trotzdem hat es mich geschockt.
»Sie brauchen nicht gleich zu heulen, junger Mann«, sagte er, denn ich war wirklich nah dran. Ich antwortete, dass ich erst vor einigen Tagen in einem Bericht gesehen hätte, dass sich heute in Israel manche Enkel von Holocaust-Überlebenden die Nummer ebenfalls tätowieren lassen, aus Solidarität mit den Großeltern. Der alte Mann fand das interessant und fragte seine junge Begleiterin, wie sie das fände. Es stellte sich heraus, dass sie die Urenkelin von ihm ist und sie fand die Idee klasse. Allerdings geht sie in Tel Aviv noch zur Schule und da sind Tätowierungen verboten.
Dann erzählte der Mann von seinem Lebensweg nach 1945. Er war nach der Befreiung von Auschwitz nach Argentinien übergesiedelt, denn er wollte nur noch weg aus Europa. Seine Frau war schon 1943 im KZ Theresienstadt ermordet worden, ein Sohn und mehrere Verwandte in anderen Konzentrationslagern. 1951 hatte er von Argentinien genug, weil dort immer mehr Deutsche auftauchten: Nazis, die fürchteten, in Europa zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er ging nach Israel, wo er bis heute lebt.
»Als ich 1968 das erste Mal wieder in Deutschland war, um meine alte Heimatstadt wiederzusehen, wurde ich aus einem Hotel in Charlottenburg rausgeworfen, nachdem man meinen israelischen Pass gesehen hatte. Und nach Ost-Berlin ließ man mich erst gar nicht einreisen, angeblich wäre ich ein feindlicher Ausländer. Ich habe mir geschworen, nie mehr in dieses Land zurückzukehren. Aber meine Urenkelin hat mich überzeugt, es nochmal zu versuchen. Und es war eine gute Entscheidung. Genau die Richtige!«
Es gibt Fahrten, die einem noch lange danach in Erinnerung bleiben, weil sie so beeindruckend sind. Diese gehört auf jeden Fall dazu.

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2 Kommentare

  1. Moin, moin,
    ich glaube, so ein Fahrgast bleibt auf ewig im Gedächtnis. Das sind doch genau die Erlebnisse, die zu den Highlights des Jobs gehören. Man kann davon natürlich keine Miete bezahlen, aber als „Lohn“ ist das doch unbezahlbar.
    Erschreckend, dass die Israelische Staatsangehörigkeit auch 1968 noch ein Problem war!
    Gruß Frank

  2. Israel&DDR…
    Da haben sie ihn wohl weniger nicht einreisen lassen, weil er Jude war, sondern weil er Israeli war. Und Israel war im Sprachgebrauch der giftige Stachel des US-Imperialismus im Fleische der umliegenden sozialistischen arabischen (Bruder)Staaten. Als US-Amerikaner hätte er ähnliche Probleme bekommen.
    Naja, mit Israel ist die DDR ja offiziell sowieso nie gut ausgekommen, inoffiziell hat aber das MfS gegen Devisen Informationen an den Mossad verkauft.

    Wäre er aus einem Land gekommen, das sich einfach nur pro forma „sozialistisch“ oder „kommunistisch“ geschimpft hätte, dann hätte er bei der Einreise automatisch zu den Guten gehört;)
    btw: es hat sich nichts geändert, die heutigen „Linken“ halten per default auch jede Verbrecherbande für gut&unterstützenswert, wenn sie nur „Befreiungs…“ oder „sozialistisch“ im Namen führt.

    btw2: ich hab übrigens den Eindruck, daß Holocaustüberlebende es positiv aufnehmen, wenn man mal Fragen abseits des Mainstreams stellt.

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