Hopfen, Malz, Verwandlung

Hopfen und Malz, also Bier. Das Bier gehört zu Berlin wie … wie … jedenfalls wie die Boulette. Ich finde: Bier hat etwas Großstädtisches. Bier hat auch was Beispielhaftes. Zum Beispiel kann man eine Geschichte des Bieres auch als eine Geschichte der Wirtschaft schreiben. Durch lange dunkle Jahrhunderte war Bier ein Erzeugnis der Genehmigungen, des Regelements und des Zunftzwanges: die einen durften brauen, die anderen nicht.
In Deutschland wurde auch das Bier frei durch die Gewerbeordnung von 1883. Die Bötzow-Brauerei, das Gebäude von 1884, am Beginn der Prenzlauer Allee ist also ein Zeugnis, ein wirtschaftsgeschichtliches Beweisstück. Prenzlauer Allee Nr. 242 bis 247, gleich hinter der Saarbrücker Straße, hinter dem vergessenen Gedenkstein für Karl Liebknecht, steht das gelbe Backsteingebäude. Früher standen hier Windmühlen. Die gelbe Brauerei, rotziegelig verziert, breitet ihre Flügel aus, als wollte sie die Stadt empfangen wie früher die Windmühlen die Winde.
Statt dessen ist das Gebäude umzäunt. „Security“ bewacht, der Wachmann lässt einen nicht vor, und erweckt so den Eindruck, dass das Gebäude ein Geheimnis berge, während doch das aktuelle Geheimnis nur darin liegt, dass das hier schon lange angekündigte „Bötzow-Center“ auf den annoncierten 20.000 Quadratmeter nicht schon längst seine Shops geöffnet hat. „Centerplan Management“ ist nicht zu erreichen. Das 100-jährige Brauereigebäude gewinnt auf diese Weise etwas Dornröschenhaftes. Dornröschen aus der Prenzlauer Allee.

„Tarzan vom Prenzlauer Berg“ hat Adolf Endler in ähnlicher Märchenhaftigkeit sein Tagebuch aus den letzten DDR-Jahren genannt. Er beschreibt darin Hauswarte aus der Prenzlauer Allee, die den Vorderhäusern gegen die Hinterhäuser und den staatlichen Bewachungsfirmen gegen die Individualität dienten. An solche Vergangenheiten – auch wenn sie „jüngste“ sind – denkt man wohl besser nicht.
Wenn man – wie ich an diesem frostigen Dezembernachmittag – die Prenzlauer Allee hinauf, entlang und zur S-Bahn-Station wieder leicht hinunter läuft, könnte man sagen, dass das eigentliche Prenzlauer Berg rechts nach Osten hinunter und links nach Westen hinauf neben der Allee liegt, sagen wir mal: rechts, wo Quangels wohnten, in die Fallada die Weddinger Hampels verwandelt hat, die Hitler widerstanden, weil Widerstand nötig war, um anständig zu bleiben, und links hinten, wo Thierse wohnt, der auch als Bundestagspräsident nicht in die Villa ziehen will, die der Steuerzahler bezahlt, sondern hier bliebt, wo das Leben ist. Heute will ich mich von der Allee aber nicht ablenken lassen.

Von Bötzow zur S-Bahn dauert es nur eine halbe Stunde. Die Zeit ist gut angelegt. Man kriegt mit, dass diese breite, von der Tram zerteilte Straße geografisch und sozial eine Art Gratweg ist; sie hat es nicht leicht zwischen Aus- und Einfallsverkehr, zwischen Autobewegung und Leben die Balance und sich selbst zusammenzuhalten.
Viele Fassaden sind noch grau, das erste leuchtende Haus ist das fachwerkhafte Sparkassenhaus Ecke Immanuelkirchstraße. Und natürlich die Kirche selbst: eine Kirche mit einer Brauerei zu vergleichen, das ist wahrscheinlich unzulässig; aber von diesen Gründerzeit-Kirchen geht etwas Leerstehendes aus, etwas Gewesenes, Industrie- und Weltanschauungsdenkmäler, sowohl die pflanzlichen wie die ideologischen Rauschmittel werden heute auf viel weniger repräsentative Weise hergestellt. Wir saufen aber immer noch und berauschen uns mit dem, was nicht von dieser Welt ist.
Die Deutsche Bank gegenüber bietet ihren Geldautomaten auch für Beträge unter 50 DM an, muss nur durch zehn teilbar sein. Multikulturelle Imbisse, einer sogar mit Sri-Lanka-Küche, und auch die Computer- und Internet-Läden haben hier das freundlich Tante-Emma-Hafte, das also auch die weltbeherrschenden Geräte aus den kalifornischen Garagen nicht beseitigt haben und gerade sie nicht. Das Großplanetarium wirkt hier besonders seltsam. Ich habe in der Nähe eines Planetariums wichtige Jugendjahre verlebt, in der Mitte der 40er Jahre war das, in Jena, und auch damals schon – ich kann das Gefühl noch reproduzieren – kam es mir seltsam vor, mich in ein enges Haus zu setzen, um den Himmel zu sehen.
Wenn man auf diesem Weg hinter dem überraschend prächtigen Küchen- und Bräunungsstudio in dem schlösschenhaft aufgetürmten Treppenhaus zu dem S-Bahnsteig hinuntergestiegen ist, hat man schon eine Menge vom Großbezirk Prenzlauer Berg/Pankow/Weißensee gesehen, zu dessen anderem charakteristischen Stadtquartier, nach Pankow Mitte, man von hier aus mit der S4, S8, S10 nur sieben Minuten braucht.

Diese kurze S-Bahn-Fahrt ist eine eigene Attraktion, die man aber als solche auch ganz überfühlen kann, wenn man anderes zu tun hat; beispielsweise wie die schöne, große Frau mit den schwarzen Augen, die den Finger schon im Buch hat, damit sie schnell aufschlagen und weiterlesen kann über „Dschingis Khan“.
Sie lenkt mich ab, ich kann die Augen nicht von ihr wenden, statt – was ich eigentlich wollte – den nordostgerichteten Bogen innerlich nachzuvollziehen, den die Bahn an der Stelle beginnt, wo sie bald in anderer Richtung abbiegen und den S-Bahn-Ring um Berlin schließen wird. Sobald es so weit ist, fahre ich dreimal ohne auszusteigen um die Stadt.
Die Schöne steigt auch in Pankow aus und bleibt auf dem Bahnsteig noch zwei, drei Minuten stehen, um das Kapitel zu Ende zu lesen, in dem Dschingis Khan … was tut er, ehe die Schöne die Augen hebt, das Buch zuklappt und so schnell die Treppe abwärts springt, dass ich ihr nicht folgen kann. Aber ich sehe sie noch hinten in der Florastraße, in die auch ich einbiege, um die Mühlenstraße zu erreichen.

Wer die Mühlenstraße nordwärts geht, der kann sich erst gar nicht vorstellen, dass hinten die bauliche Überraschung kommt, die diese Straße unter Nummer 11 bereithält: die alte Malzfabrik von Schultheiss, 1885 ff gebaut von Rohmer und Teichen: tolle, skurrile, im schneeigen Dezembernebel fast surreale Gebäude; 7500 Tonnen Malz jährlich, einstmals größte Malzfabrik Berlins. Die Gerste spitzt und ringelt, gärt und wird gedarrt; in Quellstöcken, auf Malztennen, in Weichanlagen und Keimkästen, Braupfannen und Läuterbottichen geschieht die enzymatische Stoffumwandlung: die Wörter sind mir so fremd wie die Gebäude, die mit ihren behelmten Schloten und hohen Abzugsrohren nun einen ganz anderen Wandlungsprozess beschreiben als den enzymatischen, der aus Gerste und Wasser Bier macht: hier ist das Jahrhundert vergärt und ausgedarrt, und die fröhlichen Mädchen von heute wissen und fragen nicht: was war das? Es ist gewesen.
Während ich mich im Abend, der nun schnell herniedersinkt, verzaubert fühle. Gehe durch die Budenstadt an der Kirche, mit Tram 50 bis Vinetastraße, der Name der untergegangenen Stadt ist passend zum Abstieg in die U-Bahn. Eberswalder Straße steigt eine junge Frau ein mit dreifach aufgestylten Hut, wie eine kleine Pagode, und sieht trotzdem nicht albern aus, sondern frisch und lustig; sie blickt um sich, ob ihr jemand – den Hut quittierend – entgegenlächelt, dem sie zurücklächeln kann. Das bin diesmal ich. Und damit verlasse ich für diesmal Prenzlauer Berg/Pankow/ Weißensee und sause unter Mitte entlang, Mitte/Tiergarten/Wedding, durch Wandlung (und – wie gesagt Fahrung) verwandelt.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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