Das Chaos der Erinnerung

Vom Holocaust-Mahnmal – wenn sie es jemals hinkriegen – bis zum Ehrenmal im Schönholzer Park braucht man nur 16 Minuten.
Naja, ganz stimmt das nicht, denn in diesen 16 Minuten ist man mit der S1 von unter Unter den Linden erst bis oben auf den hoch gelegenen Bahnsteig von Schönholz gekommen und blickt sich um: Auf der einen Seite Stadt, auf der anderen Landschaft. Die nördliche Landschaft gehört zu Pankow und ist eigentlich keine Landschaft, sondern auch eine Erinnerung.
Früher – glücklicher Weise haben wir schon verlernt, die Tage und Jahre genau zu zählen – war das der „Todesstreifen“ in West-Terminologie, der „antifaschistische Schutzwall“ in Ost-Sprache; jetzt verbreiten die wilden Birken und Weiden etwas Träumerisches über die Gegend, die Blättererwartung zaubert aus den noch kahlen Ästen einen rötlichen Schimmer. Wir gehen über den Asphaltweg, der aus der Geschichte übrig geblieben ist, nordwärts.
„Ob die, die hier seinerzeit entlang patrouillierten, um Nachbarn von Nachbarn zu trennen, hier jetzt manchmal spazieren gehen?“, frage ich mich. Was dächten sie dann?

Am Horizont sehen wir Hans-Heinrich Müllers zweitürmiges Umspannwerk, hinten an der Kopenhagener Straße, über die wir nachher zum S-Bahnhof Wilhelmsruh laufen werden: Eine Kathedrale der Technik, aus der die Technik ausgezogen ist, kaum eine Erinnerung hinterlassend. Von rückwärts hören wir die pädagogischen Kommandos aus der Jugend-Verkehrsschule:
„Fahr weiter! Fahr weiter! Warum bleibst du denn stehen? Das Kommando heißt nur: Achtung! Aufpassen! Doch nicht: stehen bleiben!“
„Aufpassen! Aber nicht stehen bleiben!“ murmle ich bedeutungssüchtig.
„Fang bloß nicht mit Hintergründigkeiten an!“, sagt meine Lebensfreundin, die den Sentimentalitäten abhold ist und die Dinge gerne so betrachtet, wie sie sind (aber wie sind „die Dinge“, in welchem Verhältnis mischt sich ihre Gegenwart mit ihrer Vergangenheit?). Die Straße, die wir jetzt erreichen, heißt Frühlingstraße; die Sonne kommt hervor; da dachten wir wirklich an den Frühling; ein paar Minuten lang bis zur Klemkestraße. Fritz Klemke war ein Arbeiter aus Reinickendorf, gar nicht weit von hier, auf der anderen Seite der S-Bahn, deren Trasse seine Straße unterquert: Kolonie Felseneck am Büchsenweg. Bei der Reichstagswahl im September 1930 wählten 400 Bewohner SPD, 200 KPD, 100 NSDAP, nur 50 sogenannte „Bürgerliche“; die Gegend, heißt es, war hart umkämpft: Prügeleien, blutige Köpfe.

Mitte Januar 1932 überfiel SA die Kolonie, am Ende war Fritz Klemke, Kommunist seit vier Tagen (erzählt man), tot, „eine rohe bestialische Tat“, sagte der Staatsanwalt beim Prozess im Dezember 1932, das Gericht konnte trotzdem nur einen Fahrrad-Diebstahl erkennen und stellte das Verfahren ein, Täter angeblich nicht zu ermitteln; als Nebenkläger gegen die SA war Rechtsanwalt Hans Litten aufgetreten, ein junger Mann, noch keine 30 Jahre, er hatte schon Hitler in die Enge getrieben, das zahlte der ihm heim, sobald er Reichskanzler war, fünf Jahre schleppte er den Aufrechten durch die KZs, ermordet am 4. oder 5. Januar 1938 in Dachau, hinten auf dem Pankower Friedhof III an der Leonhard-Frank-Straße ist eine Grabstätte, ein Denkmal, ein Erinnerungs-Stein (lese ich, gefunden habe ich ihn bisher nicht).
Als ich Richter war, in einem anderen Leben, und der Justiz demokratisch Gutes zutraute, sagte mir einer seiner Söhne, alt wie ich, Ministerial-Beamter im niedersächsischen Justiz-Ministerium: Wie kannst du der deutschen Justiz Gutes zutrauen? Wie konnte ich! An den Illusionen halten wir uns aufrecht, nicht an den Wahrheiten.
Damit haben wir das nördliche Stück der Schönholzer Heide erreicht, das die Germanenstraße von dem übrigen trennt.
Die Straße weitet sich zu einem Rondell, die Fahnenmasten wirken spillerig, als ob sie frören, eine breite Allee führt zwischen den vierreihigen wetter-grellgrünen Buchen (sind es Buchen? Meine Lebensfreundin war mal Biologie-Lehrerin, ich hätte sie gleich fragen sollen) auf das Ehrenmal zu. Es beginnt hinter mächtigen Pylonen aus rötlichem Granit; die Bronze-Reliefs sind in Lauchhammer gegossen, 1949, der Bildhauer war Ivan Gawrilowitsch Perschudtschew, da lag die Schlacht um Berlin erst vier Jahre zurück; über 13.000 Sowjet-Soldaten liegen hier begraben in ewiger Ruhe, wie angeschrieben ist.

Wir gehen an der Mauer entlang, die Namensschild an Namensschild reiht, alles junge Leute, Anfang der Zwanzig. Krieg ist: junge Leute sterben auf Befehl von alten und älteren. Ist Krieg außerdem auch was Schönes? Eine schöne, kräftige Frau hält die Hand des heroisch Hinsinkenden, der in diesem Augenblick ein Held wird, das deutsche Trauerlied widerlegend, in dem der Kamerad dem Kameraden bekanntlich die Hand nicht reichen konnte, dieweil er…
Das ist ein Friedhof, ein Denkmal, ein Ehrenmal, ästhetische Maßstäbe sind also unangebracht. Im Hintergrund ragt ein Obelisk empor, fast 34 Meter, aus finnischem Marmor, darunter ein feuchter Raum, vor dem metallenen Kranz Blumen und Gebinde von den Berliner Freunden der Völker Russlands, rote Nelken auch vor ein paar Grabplatten draußen. Drei Herren vom Grünflächenamt (denke ich, weil draußen ihr grüner Wagen steht) besichtigen den Zustand der Anlage, dann sind wir allein.
„Manche von den Stalin-Worten (die metallen, deutsch, russisch, angeschlagen sind) kann man unterschreiben“, sagt morgen Jagusch, der Fotograf. Können wir auch, zumindest das gegen den Rassismus.
„Heldengesänge“, sagt meine Lebensfreundin, die jede Kriegs-Verherrlichung ablehnt. Pazifist bin ich auch. Man muss das Böse rechtzeitig verweisen, es fängt klein an.

„Aber wenn man das vergessen hat, muss man trotzdem kämpfen“, sagt meine Lebensfreundin. Mehr sagen wir nicht, als diese Bruchstücke aus einem Gespräch, das wir schon oft geführt haben, von einem Einerseits ins andere Andererseits.
Einen anderen Ausgang als den Eingang gibt es nicht, wir laufen um das Denkmal herum, die Mauer sieht von außen ganz unfeierlich aus, die Erde ist nass und schwarz; die Straße, die wir erreichen, heißt immer noch nach den Germanen und die gegenüber liegende nach der Walhalla: Ein merkwürdiger Kommentar.
In der Kehre des Heegermühler Weges sieht der Obelisk gegens Sonnenlicht fast wie ein Schornstein aus. Die Gegend ist vorstädtisch, lässt aber erkennen, dass die Stadt, vor der sie liegt, sehr groß ist. Wir wissen schon, dass wir vom Bahnhof Wilhelmsruh nur 20 Minuten bis in die Mitte der Metropole brauchen, wo man immer noch nicht weiß, wie man gedenken soll und ob überhaupt.
Es ist mit den Denkmälern wie mit dem Gedächtnis selbst, das ein unvollkommener Spiegel ist, manchmal auch ein ganz verblasster; die eine Wahrnehmung hält er fest, die andere nicht, wir wissen nicht, nach welchem System und ob es überhaupt ein System gibt oder alles Zufall ist, beinahe Chaos.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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