Der Springpfuhl wartet auf den Frühling

Im Fernsehen sagen die freundlichen Damen und Herren vor ihrer großen Wetterkarte schon seit Tagen den Frühling voraus. Aber als ich an diesem Mitte-März-Dienstag auf der Station Springpfuhl ausgestiegen bin aus der S7, die wilde Märkische Allee durch den niedrig-langen Tunnel unterquert habe und gegenüber wieder aufgestiegen bin, empfängt mich auf dem Helene-Weigel-Platz tatsächlich ein kleines Schneetreiben. Darf doch nicht wahr sein! Die Verwunderungsformeln kommen fast so schnell in den Kopf wie die kleinen eisigen Schneeflöckchen auf den schwarzen Saretto-Mantel. Ich bin zum ersten Mal hier. Gestern Abend habe ich auf verschiedenen Karten das Stadtquadrat studiert, das Märkische Allee, Poelchaustraße und die rechtwinkelige Allee der Kosmonauten umschließen und zwischen den Stationen Springpfuhl und Poelchaustraße an die S-Bahn-Trasse anhängen. Und habe versucht, mir vorzustellen, wie es hier wohl aussieht. Jetzt fange ich an, es zu sehen, aber es ist von Anfang an anders. Wo ist man, wenn man auf dem Helene-Weigel-Platz ist?
Zu Hause, werden viele doch antworten. Marzahn wird schöner, hat die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn angeschrieben. Damit hat sie recht, und sie hat auch recht damit, dass sie’s ausdrücklich anschreibt. Die Gegend muss verteidigt und gelobt werden. Mit den Stadtgegenden ist es nicht anders als mit den Menschen. Wenn man Menschen schlecht macht – und sei es in der besten pädagogischen Absicht – geht es ihnen schließlich auch schlecht. Lob und Zuspruch erziehen. Trotzdem ist ein Komparativ natürlich keine Antwort auf die Wo-Frage. „Berlin-Marzahn!“ Das ist keine ausreichende Antwort an einen, der auf dem Helene-Weigel-Platz zwischen den kleinen Buden, vielleicht an einem der dickduftenden Imbiss-Stände stehend fragte: „Wo bin ich hier?“

Die umgebenden Hochhäuser sind eindrucksvoll, schön renoviert; auch wenn man erst an ihren Füßen steht, sieht man ihnen den Blick an, den man aus den oberen Wohnungsfenstern weit über das Land und die Stadt hat. Das Stadtquartier, sagte ich, ist an die S-Bahn-Trasse angehängt wie eine breite Fahne. Es ist die Fahne der Jugend. Wer hier ist, ist in der Jugend Berlins.
Was? Was soll denn das für ein Satz sein? Erst mal ist es ein richtiger Satz. Dies ist hier der jüngste Teil der Metropole; eben 20 Jahre alt. Zu seinen Rändern hin wird Berlin immer jünger. Die Peripherie ist jung. An der 4. und 5. Kita, an denen ich gleich vorbeikommen werde, an der geraden, platanenbestandenen Innenstraße, auf die von der anderen Seite der Schülerlärm dringt, steht: „20 Jahre – eine Generation“.
Zwischen dem Beginn dieses Viertels, 1978, und heute läge also eine Generation? Ein Kind, das am Tag der Umbenennung der Springpfuhlstraße in Allee der Kosmonauten, am 22. September 1978, hier im ersten Haus geboren wäre, während Bykowski und Jähn, damals die jüngsten Ehrenbürger Berlins, unten gefeiert wurden, wäre jetzt (zum Beispiel) eine Studentin im 3. oder 4. Semester Jura an der Humboldt-Universität oder ein Arbeitsloser, der den Aufforderungen des Arbeitsamtes VIII hinten an der Poelchaustraße mit Ausbildungsplatzangebot nicht mehr folgt: Es ist ein Mensch – rechnen wir mal grob -, der eine DDR-Kindheit und eine BRD-Jugend hinter sich hat. Diese Kita, diese Schule, dieser Jugendclub, das Kino Sojus, die schnellen S-Bahn-Fahrten nach Berlin, das Wäldchen am Springpfuhl, die weite Wiese mit den „wegbegleitenden“ Beton-Keramiken: daraus wäre seine Jugend gemacht, das ist der heimatliche Ort, an den er denken wird, 50 Jahre weiter, wenn die Zeit gekommen ist, in der das Gegenwärtige weniger gegenwärtig ist, als das, was vorbei ist. Wenn ich sterbe und die entschwindenden Bilder mich noch einmal an die Schönheit der Erde erinnern, dann werde ich bestimmt nicht Adenauer oder Willy Brandt sehen und das Deutschlandlied hören, aber vielleicht die Zeisige am Schönberg in Sonneberg/Thüringen, die Stachelbeeren in unserem Garten und das jugendliche Gesicht meiner Mutter, das sich zu mir herunterbeugt und lächelt. Unsere eigene Geschichte ist am Ende doch wirklicher als die Geschichte, die diejenigen machen, denen wir in unserem privaten Leben haben ausweichen müssen. Heimat am Springpfuhl, zwischen Kosmonauten und Poelchau/Maron. Diese tiefberlinische Stadtgegend hat ihre heutige Gestalt also erst 20 Jahre lang und ist trotzdem schon einmal geschichtlich überarbeitet, geprüft und teilweise nicht für gut befunden worden. Die Poelchaustraße zum Beispiel hieß anfangs nach Karl Maron, dem Chefvolkspolizisten und Innenminister. Seine Anfangs- und Enddaten stimmen mit denen von Harald Poelchau fast überein. Poelchau war ein großer, blonder Mann, Gefängnispfarrer, vielen Todgeweihten hat er die Seele gestärkt und, solange es ging, auch den Körper, jederzeit lieber eine Vorschrift als ein Herz brechend; eine Gesellschaft, die Gefängnisse braucht, von einer zu schweigen, die Gefangene umbringt, ist keine wirklich humane Gesellschaft und wenn es die älteste Demokratie der Erde ist. Nichts – natürlich! also gegen Poelchau. Aber die Geschichte ist kein Wunschkonzert; sie besteht nicht nur aus dem, was wir gerne hätten; sie ist nicht beliebig an- und abzuschalten. Ich stehe nun inmitten des Häuserrings, der Murtzaner Ring heißt nach einem uralten Namen für Marzahn, das bis vor 20 Jahren nur ein kleines Dorf war und jedenfalls kein wesentlicher Teil von Berlin. Die Häuser sind in interessanter Farbigkeit renoviert, vor allem eine bestimmte Blau-Orange-Mischung finde ich Spitze; der kunsthügelige Innenhof ist fast ein Park. Als ich an der Poelchaustraße draußen bin, sehe ich westlich hinten ein anderes Farbenensemble, das in seiner sachten Bonbonfarbigkeit ebenfalls anziehend wirkt; Martha-Arendsee-, Paul-Schwenk-Straße, die Straßen dieser SPD-, USPD-, KPD-, SED-Leute hat die Senatsgeschichtsbereinigungskommission bestehen lassen; ich komme gleich dort hin.

Aber ich muss den Stadtplan aus der Tasche ziehen. Gegenden wie diese haben für mich einen merkwürdig träumerischen Charakter; ich verlaufe mich leicht; augenblicklich weiß ich nicht mal, in welche Richtung ich mich bewegen muss.
Ich wende den Stadtplan hin und her, damit ich ihn richtungsgerecht halte, ehe ich die Märkische Allee überquere, die autodicht wie ein Strom verläuft, der die Provinzen teilt.
Das Schulmädchen geht auch hinüber, das sich eben von seinem Freund, der am Murtzaner Ring wohnt, zärtlich küssend verabschiedet hat.
Der Dompfaffenweg, der jetzt kommt, ist eine Attraktion. Ich empfinde das so. Vielleicht empfindet man nicht so, wenn man einfach in den Dompfaffenweg geht und nicht vom Helene-Weigel-Platz heraufkommt. 50 Schritte vom Murtzaner Ring, die Hochhäuser noch im Blick, ist die Gegend doch völlig verändert ins Datschen- und Kleinhaushafte. Sehr gepflegt. Ein Kleingarten-Dahlem. Die Straßen und Wege haben seit den 20er Jahren dieselben Namen, sie heißen nach Vögeln, Apfel-, Pflaumen-, Birnensorten und nach ein paar Wissenschaftlern, die Obst gezüchtet haben. Der Gegend kann die Geschichte nichts anhaben. Zwei freundliche alte Männer kommen mir entgegen und grüßen mich, wie man’s auf dem Lande macht, wo jeder von jedem denkt, dass man irgendwie zusammen gehört, und sich nicht fremd ist, auch wenn man sich nicht kennt. Ein bisschen Sonne kommt hervor. Berlin ist freundlich und friedlich, es lebt mitten im Strom, auf einer Insel und lässt seine Geschichte an sich vorbeifließen. Es wird jedes Jahr Frühling.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*