Die Hälfte des Mantels

Für einen, der von Berlin noch gar nichts weiß, aber doch in kurzer Zeit etwas Wesentliches über die Hauptstadt wissen möchte, sind die 50 S5-Minuten von Westkreuz nach Mahlsdorf gut angelegt. Wenn er dann hinterher zusammenfassend sagt: es war eine Fahrt durchs Zentrum an die Peripherie, sagt er nichts Falsches, aber wohl doch eigentlich nicht genug. Und er wird es vielleicht auch gar nicht sagen, wenn er – wie ich an diesem Aprildonnerstag, der sonnig begann und regnerisch endete – in Mahlsdorf aus-, das heißt vom Bahnsteig herabsteigt zur Hönower Straße, die auf dem von innen beleuchteten Lageplan in Gelb als eine Hauptverkehrszone ausgewiesen ist, als eine Art Zentrum also. Hier geht es lebhafter zu, als es der Innenstädter vielleicht erwartete, aber alles in allem doch so, wie man es sich dachte, wenn man gedacht hätte.

Ich hatte einfach keine Vorstellung von Mahlsdorf, es hatte sich bisher für mich nicht als notwendig erwiesen – wie man ja heilsamerweise viele Unvollkommenheiten, aus denen man zusammengesetzt ist, nicht als solche bemerkt. Zunächst scheint auch hier das charakteristische Ensemble die flache Kaufhalle aus Billigbauteilen zu sein, mit den Imbissbuden davor und den Marktständen mit Billigklamotten; mag einer der Imbissstände auch „Schlemmerrolle“ heißen, so geht es hier doch in dem dichten Geruch, den der Hungrige leichter verarbeitet als der Satte, um die Befriedigung einfacher Bedürfnisse.
Nach der Wodanstraße, die hier schon das ganze Jahrhundert lang deutschtümelnd den lauten Germanengott benennt, aber schon wenige Meter nach der Hönower durch eine ganz ruhige Wohngegend verläuft, biege ich des Namens wegen in die Hörselbergstraße ein: Dass der Ort, an dem man über der Sinnenliebe ganz schnell alles Höhere vergisst – liege er nun in den Muschelkalkfelsen bei Eisenach oder sonst wo -, ein deutscher Ort ist, wissen wir seit Richard Wagner. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Die Epochen jedenfalls, in denen die Deutschen das Höhere vergessen haben, waren nicht dadurch verursacht, dass die falschen Männer in den Armen der falschen Frauen gelegen hatten.
Es ist eine im wörtlichsten Sinne blühende Gegend. Hier treten die Garten-Individualitäten eines Quartiers grün und blumenbunt hervor, dessen Heimatlichkeit schon aus der S-Bahn wahrzunehmen war. Die Gartenzwerge und langohrigen Plastik-Eselchen, die Blumentöpfe tragen, sind, wo sie stehen, nicht aufgestellt, damit wir sie ästhetisch beurteilen, sondern weil sie als schön empfunden werden und Freude machen. „Es sieht ja aus wie ein Dahlem für uns!“ hätte meine Lebensfreundin vielleicht gesagt, wenn sie mich begleitet und die Eselchen gesehn hätte.

Wenn mich nun Jagusch, der Fotograf, der mir einen Tag vorausgegangen ist, nicht vorbereitet hätte, wäre ich gewiss noch überraschter gewesen, als ich es auch jetzt noch bin, als ich mich vor Marcara, einem Restaurant mit ungarischer Küche, noch frage: Was soll Ungarn hier? Und St. Martin sehe. Die Kirche an der Ecke Giese-/Nentwigstraße, die Josef Bachem 1929/30 hier gebaut hat, heißt nach dem hl. Martin. Man könnte sagen: Dieser Heilige war ein Ungar, am Anfang des 4. Jahrhunderts in Sabaria geboren. Ein Offizier, der das Soldatentum aufgab. Ein Mann aus der Führungsklasse, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte, ehe sich zur Nacht zeigte, wer der Bettler war: Gott ist unter den Ärmsten, die Bedürftigen, die nichts haben: einer von denen ist Gott. Was für eine Geschichte! Von brennender Aktualität!
Der Anblick der einfachen, hochragenden Backsteinkirche betrifft und verwirrt mich fast. Ich weiß schon: Es ist eigentlich eine Sparkirche; einen großen Teil der Arbeiten verrichteten die Gemeindemitglieder selbst; fast eine halbe Million Backsteine hat der Pfarrer billig aus den Abbrucharbeiten am Alex gekauft, 83 Kirchen in Deutschland hat er besucht, um das Geld für diese Kirche zusammenzubetteln. 170.000 Mark das ganze: und damit einen solchen Bau von einer stolzen Modernität, die in ihrer Fremdheit zu den Gärten, Kleinvillen, Eselchen und Gartenzwergen auch heute noch erstaunt.
Wenn man die Bücher studiert, legt sich dieses Erstaunen ein bisschen. Man erkennt eine Kirchenbautradition (in die natürlich auch die Augustinuskirche desselben Architekten in der Dänenstraße in Prenzlauer Berg einzubeziehen ist), und man erkennt überhaupt einen geschichtlichen Zusammenhang: Der Bischof, der diese Kirche am 3. August 1930 weihte, war der erste katholische Bischof von Berlin. 1929 hatte der Vatikan unter der die Religionsfreiheit garantierenden Weimarer Verfassung mit dem SPD-regierten Staat Preußen ein Konkordat geschlossen, auf dessen Rechtsgrundlage Berlin mit St. Hedwig als Kathedrale zum Bischofssitz wurde. Pfarrer Schölzel, dessen Engagement die Kirche in der Giesestraße ihre Existenz verdankt, war Kaplan an St. Hedwig gewesen, als es noch keine Bischofskirche war. Und von dort – nehme ich an – kannte er den Prälaten, der hier in der Giesestraße zur Grundsteinlegung am 7. Juli 1929 predigte: Bernhard Lichtenberg, der Mutige, der seinen offenen Widerstand gegen die Nazis 1943 mit dem Leben bezahlte. Sein Grab ist heute in der Krypta der St. Hedwigs-Kathedrale. An der linken Wand dieser Krypta sind auf vier Tafeln katholische Blutzeugen mit Namen genannt; der letzte Name ist der des Archivrates Karl Heinrich Schäfer. In der kleinen Festschrift, die mit einem modernen Cover des Bachem-Mitarbeiters Horwatin 1930 zur Weihe der St. Martinskirche erschien, ist der erste Aufsatz von diesem Karl Heinrich Schäfer: Der heilige „Martin (schreibt er da) verzichtete auf seine Karriere als Offizier und Staatsbeamter, um des Glaubens und der christlichen Liebe willen … daran will auch uns die neue Martinskirche erinnern.“ Als es nun zu regnen beginnt, will mir das zunächst wie ein Kommentar erscheinen. Aber was gäbe es da zu weinen?

Die Café-Bar an der Ecke Zander-/Heinrich-Grüber-Straße ist erst ab 19 Uhr geöffnet; dafür ist sie bis 3 Uhr auf. Es gibt also einen Nachtbedarf hier – in der Tarifwabe 5656: Auf dem Bahnhof Kaulsdorf erreiche ich die S5 wieder, mit der ich nun voller Nachdenklichkeit davon fahre aus dem Gartenbezirk Hellersdorf.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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2 Kommentare

  1. Nein:
    Nentwig, Paul, + 1935, Unternehmer.
    Nentwig hat einen großen Teil von Kaulsdorf-Nord parzelliert und erschlossen. In der Giesestraße betrieb er ein Gartenlokal „Zum Wilden Eber“. Im Saal der Gaststätte veranstaltete die katholische Kirchengemeinde anfänglich ihre Gottesdienste. Später erwarb sie das gesamte Grundstück, auf dem heute die Kaulsdorfer St.-Martinus-Kirche steht.

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