Hoher Mut oder stiller Wahn

Die Stresemannstraße führt von der SPD-Zentrale zum Potsdamer Platz. Voller Leben ist das Sozialisten-Hauptquartier noch nicht und der Zentralplatz ist längst noch nicht baustellenfrei; aber das wird, das wird! Es ist ja alles schon mal gewesen. Ungefähr da, wo jetzt die kleine Redaktion des eher am Leben gehaltenen als lebenden „Vorwärts“ arbeitet, arbeitete die Redaktion der größten Arbeiterzeitung der Welt, die auch „Vorwärts“ hieß und auch der SPD gehörte. Und da, wo jetzt die toscanagelben und glasblauen Hochhäuser von Debis und Sony stehen und immer neue gläserne Decken zwischen den Himmel und die Imbiss-Stände gelegt werden, war einst der verkehrsreichste Platz Europas … der Welt, will ich nicht gleich sagen, das merkte jeder, dass das nicht stimmte; der andere Superlativ klingt immerhin möglich.

Die Stresemannstraße, in der ich jetzt am Fenster von „freßco“ sitze am buntkarierten Tisch, hat mehrere Vergangenheiten hinter sich. Die Vergangenheiten sind klar, die Gegenwart ist unklar. Und unklar ist auch, ob die Vergangenheiten mit der Gegenwart irgend was zu tun haben. Es gibt natürlich Rückstände. In der Stresemannstraße gibt es Rückstände aus der Saarlandstraße, aus der Königgrätzer Straße, aus der Hirschelstraße, vielleicht sogar aus der Anhaltschen Kommunikation: Aber ob das die verschiedenen Namen einundderselben Straße sind, das ist viel ungewisser, als die Tatsache behauptet, dass sie sich alle auf dieselbe Örtlichkeit beziehen.
„Kennen Sie Vicky Baum?“, will ich die hübsche Frau hinter dem Tresen fragen, die – bilde ich mir ein – Schauspielerin ist und sich hier ein Zubrot verdient, weil es zur Zeit keine Rolle für sie gibt. Aber sie hört gar nicht zu, und ich kann also nicht behaupten, dass sie „nee!“ gesagt hat. Also sollte ich auch nicht rhetorisch schreiben: „Wer weiß heute noch, wer Vicky Baum war?“

Ein Stück weiter, gegenüber dem Anhalter Bahnhof, stand das Hotel Excelsior, in dem sich Vicky Baum als Zimmermädchen verkleidete, um schön echt „Menschen im Hotel“ schreiben zu können. „Berlin war hell, laut und sehr voll. Berlin schaute ihr neugierig und voll Spott in das geschminkte, aufgelöste Gesicht … Es ist wahr, dass unser Nachtpublikum nicht first class ist. Aber – que voulez vous – nur schlechtes Publikum bringt Geld in die Bude…“ Das war also hier. Man kann sich Greta Garbo dort drüben vorstellen. Man kann sie sehen, während man seinen Milchkaffee trinkt, und mit den Achseln zucken.
Wo jetzt nur Kreuzberg ist, war also mal … was? – eine Top-Adresse, ein Spitzenplatz, ein Welt-Mittelpunkt. Und?
Warum ist es nicht mehr da? Weil eben alles sich ändert, hier unter dem wächsernen Mond? Oder: Weil die Deutschen sich in ein Volk von Mördern und Mordhelfern verwandelten? Ist die Stresemannstraße, die nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert in Straßenmittelmäßigkeit zugebracht hat, also eine Strafe? Dort vorne, gegenüber dem Abgeordnetenhaus von Berlin, das sich in einem viel zu historischen Gebäude verliert, stand von Schinkel das Prinz-Albrecht-Palais: Zuletzt eine Mörder- und Folterzentrale, die größte der Welt, eine Top-Adresse, ein Weltmittelpunkt. „Topographie des Terrors“ heißen die Mauerreste, die man dort besichtigen und aus denen man nicht lernen kann, warum die Deutschen Mörder und Mordgehilfen geworden sind.
„Ist es also eine Straftat, was die Bundeswehrpiloten jetzt in Jugoslawien tun?“, fragte vorhin ein Student, als ich in meiner letzten Verfassungsrechts-Vorlesung dargelegt hatte, dass die Bundeswehrbomben wahrscheinlich verfassungswidrig sind.

„Ich habe im Anhalter Bahnhof“, rufe ich, „im Gang eines proppenvollen Zuges in einer Zinkbadewanne, auf einem roten Inlett gelegen, als der Bahnhof bombardiert wurde, die Bomberpiloten (Engländer? Amerikaner?) habe ich gehasst“. Später habe ich diese Angst und diesen Hass verdrängt, weil mir klar wurde: ohne Engländer und Amerikaner (und ohne die Rote Armee) wäre Hitler da oben am Potsdamer Platz nicht in die Hölle gefahren. Wenn ich mir jetzt überlege, was Kinder in Belgrad bei den Nato-Bomben vielleicht empfinden, erinnere ich mich an diese 55 Jahre zurück liegenden Bomben auf die Stresemannstraße. Hier, von meinem Fensterplatz im freßco, kann ich die Stelle ungefähr sehen, wo ich damals vor Angst in die Hose machte.
„Nach 50 Friedensjahren entbrannte der Krieg. Niemand in Deutschland, der nicht über 60 Jahre alt war, wusste von der Not eines Krieges zu erzählen“. Gustav Freytag schrieb das – wer weiß noch, wer Gustav Freytag war? Die Stelle handelt vom deutsch-dänischen Krieg und vom „deutschen Krieg“, deutsch-deutschen, deutsch-österreichischen, 1866. Bei Königgrätz in Böhmen, Hradec Králové, Tschechien, besiegten die Preußen die Österreicher, Bayern, Württemberger, Sachsen, Hannoveraner, Badener, Hessen. Das war am 3. Juli. Am Tag darauf schrieb Theodor Fontane von seiner Wohnung Hirschelstraße 14 (woraus bald Königgrätzer Straße 25 wurde) seinem Verleger, der eigentlich „antikriegerisch“ eingestellt war, ob er nicht ein Kriegsbuch schreiben sollte. Er hat es geschrieben und sich – alles in allem – vor der Nachwelt nicht blamiert damit. „Hochgradiger Borussismus und Deutschland, Deutschland über alles – das eine wie das andere macht mich nervös“. Ein Lob vom König kriegte Fontane also nicht.

In dieser Wohnung in der Stresemannstraße erlebte Fontane noch einen weiteren Krieg, über den er auch ein Buch schrieb. Zu den weiteren Folgen dieses 1870er Krieges gehörte, dass er seine Wohnung los wurde. „Die Zeit macht einen irr. Es gehört in diesen 600- und 800-Taler-Miete-Tagen wirklich ein hoher Mut oder ein stiller Wahnsinn dazu“, Schriftsteller in Berlin zu sein. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon schrieb“, schrieb F. 1872, „dass unser Haus verkauft ist, dass die Mieten mindestens verdoppelt werden und dass wir also alle ziehen.“ Damit zog er in das Haus, in dem die Bettwanzen ungestörte, ewige Brautnacht feierten, Potsdamer Straße 134c. Voriges Jahr vor 100 Jahren starb er dort, und die Miete war bis dahin nicht ein einziges Mal erhöht worden. Jetzt erstreckt sich dort die Daimler-City und der neue Potsdamer Platz, der nichts mit Fontane zu tun hat und mit vergangenen Kriegen.
Wirklich nicht. Man kommt mit der Gegenwart besser klar, wenn man sich nicht erinnert. Die Gefahr, in Depressionen zu fallen, ist viel geringer, wenn man im Vergessen geübt ist. Wo die Stresemannstraße endet, stehen die Touristen gebannt und betrachten die Mauer-Reste der jüngsten Vergangenheit.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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