Draußen im Walde

Wir kommen aus dem Osten. Mit der Tram Nr. 60 und der S4 sind wir von Hirschgarten um halb Berlin gefahren. Am Bahnhof Halensee sind wir ausgestiegen und haben an Walter Hasenclever gedacht, der – als er keine Hoffnung mehr hatte, jemals nach Berlin heimzukehren – den herzzerreißenden Wunsch wünschte, noch einmal auf der Halensee-Brücke zu stehen. Wir wissen, dass es etwas Kostbares ist, in seiner Heimat bleiben zu dürfen. Am Rathenauplatz, der als ein Autoverteiler den Namen eines Mannes hochhält, den deutsche Idealisten (jaja! da hilft nichts! Idealismus ist etwas Gefährliches) wohl weniger deshalb gleich um die Ecke um die Ecke gebracht haben, weil er reich war und Außenminister, als weil er recht hatte und Jude war, dort biegen wir über der rasenden, rauschenden Stadttangente in den Gillweg und von diesem in die Wangenheimstraße. Wir kommen an der Bonhoeffer-Villa vorbei, in der der berühmte Psychiater mit seinen Kindern lebte, die später dem deutschen Widerstand gegen Hitler die Namen gegeben haben, die diese Geschichtsepoche von den vielen sozialistischen und kommunistischen Opfern aus den unfeineren Quartieren nicht nehmen wollte.

Die Caspar-Theyß-Straße spazieren wir westwärts, weil wir den Bismarckplatz „von der richtigen Seite“ erreichen wollen. Der Johannaplatz, zu dem wir vom Bismarckplatz weiter spazieren werden, heißt so, weil die Frau Bismarck, Johanna, und die Herbertstraße, die ihn schneidet, weil der älteste Sohn von Otto und Johanna Bismarck Herbert hieß: der Außenminister des Reiches. Lassen wir die Bismarcks! Am Denkmal auf dem Bismarckplatz steht „dem Fürsten Bismarck … seine dankbare Kolonie Grunewald“.
„Kolonie ist ironisch“, sagt meine Lebensfreundin, dem Wort den imperialen Sinn unterlegend, mit dem das 19. Jahrhundert aus Menschen Sklaven machte. In diesem Sinne natürlich gehörten die meisten dankbaren Kolonisten im Grunewald eher zu den Sklavenhaltern. Aber die Schicksale der Villenbewohner wechselten so schnell, dass wir ihnen keine eindeutigen Worte beilegen sollten.
Auf der Ostseite des Platzes stehen Polizisten, mehrere grüne Autos, aufgetürmte Lübecker Gitter, Stacheldraht. Am Anfang der Schinkelstraße das israelische Generalkonsulat. Jetzt bewacht die Berliner Polizei es sorgfältig, nachdem sie einen Überfall nicht hat verhindern können, der vier Menschen das Leben gekostet hat. Das ist noch nicht lange her.
An dieses Arrangement anschließend ein weites, von der Schinkel- bis zur westlichen Caspar-Theyß-Straße in elegantem konkaven Bogen reichendes Dienstgebäude, dessen Durchfahrt mit Schmiedeeisen verschlossen ist: Bundesadler und UN-Umwelt-Engel, der hier also schwarz statt blau ist: das Bundesumweltamt. Das Haus – bei weitem das größte im Grunewald – ist 1935 bis 1937 gebaut; es erstreckt sich bis zur Koenigsallee. Der Architekt hieß Kurt Heinrich Tischer. Die Aufgabe war, ein Haus zu bauen, das den „altpreußischen Bauten in Berlin und Potsdam“ entspräche; und dass überhaupt im Grunewald gebaut wurde, „draußen im Walde“, das rechtfertigte sich mit der Besonderheit des Hauses: Dienstsitz des „Reichsarbeitsführers“, Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes. Seit Juni 1935: allgemeine Dienstpflicht für Männer von 18 bis 25, für junge Frauen zunächst freiwillig, Pflichtjahr auch für sie seit 1939; zuletzt hatte die Organisation so ungefähr 350.000 junge Deutsche – wie soll man sagen? – unterm Spaten. „Der Gegenpol sind Bauten, auf denen auch Gewitterwolken, Nordlichter und sonstige Staffage den Blick fangen“, steht in einem Bauwelt-Artikel von 1942 zum Lob dieses Gebäudes. Das soll vielleicht zugleich ein Seitenhieb auf die Nachbarhäuser sein, z.B. auf das Haus Caspar-Theyß-Straße Nr. 9 des Historienmalers Röhling aus dem Jahre 1909.
Wir sind heute – wie gesagt – aus Hirschgarten gekommen. Dort haben wir die Westendsiedlung besichtigt, die Kurt Heinrich Tischer 1929/30 meisterhaft gebaut hat, oder jedenfalls: sehr gelungen. Ein Widerstandskämpfer gegen die Nazis wird er als Reichsarbeitsdienstarchitekt nicht gewesen sein. Wir wissen es aber nicht. Auch manche von denen, an die wir uns vorhin erinnert haben und gleich nachher erinnern werden, wenn wir am Grunewaldgymnasium vorüber gehen, wo Bonhoeffers und Dohnanyis zur Schule gingen, haben erst mit Hitler mitgemacht. Dass man nein sagen musste auf höchstes Risiko – das war ein Lernprozess. Kurt Heinrich Tischer, der Architekt, ist im Juli 1942 gefallen, „für Deutschland“, wie es hieß, solche Opfer lassen wir uns nicht mehr aufreden. Aber alle, die der Staat aus ihrer Heimat verjagt und umbringt, sind Opfer.
Natürlich, sagt meine Lebensfreundin, da gibts nichts, der Staat ist der Leviathan. Wir sitzen auf der Bank am Johannaplatz unter prächtigen Kastanien, Blutbuchen, rosa Kirschen, fast gelben Hainbuchen, Cornellkirschen, Felsenbirnen und duftendem Flieder. Schöner kann es in keiner Metropole sein, nirgendwo. Wenn bloß die Geschichte nicht wäre, die manchmal störend Mitteilungen macht.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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