Gulliver in Lichtenberg

Nicht die Adresse angeben! Das muss jeder selbst finden; sonst fehlt ihm das Beste: der Überraschungseffekt. Vielleicht gibt es Wiederholungen, vielleicht sogar Vorbilder; für uns ist es aber eine Einmaligkeit … mehr: Es ist wie im Märchen, im Traum, wir glauben gar nicht, dass wir sehen, was wir aber wirklich erblicken. Wir sprechen dann noch lange darüber, verwenden die verschiedensten Vergleiche.
Liesel sagt: „Wie bei Gulliver“, sie meint die Riesentochter, die den kleinen Gulliver, der nichts als Menschengröße hatte, in einem gepolsterten Kasten mit sich trug, vor sich auf den Riesentisch stellte und mit ihren Riesenfreundinnen beobachtete, was Gulliver tat. Manchmal war ihm das peinlich. Das ist hier bestimmt nicht so, „im Gegenteil: Die Leute werden stolz sein, zumindest hochzufrieden.“

Am Nöldnerplatz sind wir ausgestiegen. Oben, mit der S-Bahn, fahre ich hier oft vorüber, manche Mauer kenne ich von ganz dicht, in manche Fenster habe ich zu schauen versucht.

Die S-Bahn gibt einen Überblick, aber schließlich kommt es auf Einblicke an. Sowie wir vom Bahnsteig unten sind, sind wir – so sehr wir die Gegend auch wiedererkennen – nicht in der Fremde, aber ganz woanders. Liesel, meine Lebensfreundin, die mich heute begleitet, weil es mir nicht so gut geht und sie deshalb denkt, dass ich vielleicht Hilfe brauche oder jedenfalls jemanden, zu dem ich reden kann – denn Reden ist gut gegen Depression (und am besten ist Liebe) -, war in einem früheren Leben Lehrerin.

Durch die Lückstraße also zunächst zur Fischerstraße Ecke Schlichtallee, wenn man auch den Eck-Rundbau der buchberühmten, weitgestreckten Schulanlage dort zur Zeit gar nicht gut sehen kann. Der Architekt war Max Taut, von dem auch in Köpenick ein Schulgebäude erhalten ist, dessen architektonische Grundidee auch durch manche Änderung der Zwischenzeit nicht unsichtbar geworden ist. Ähnlich ist es hier. „Jedem Bauwerk sind nicht nur die Zeit seiner Entstehung, sondern auch die sozialen und staatlichen Errungenschaften und Ziele der Erbauungszeit abzulesen“, heißt es in einem Text von 1932, als diese Anlage gerade fertig geworden war, im letzten Jahr der Weimarer Republik. „Erkennt dies die in diesen Räumen zum Staatsbürger erzogene Jugend, so hat der Architekt eine über die übliche künstlerische und technische Leistung hinausgehende Tat vollbracht.“

„Schließlich kommt es doch eher auf die Lehrer an als auf die Architekten“, sagt Liesel, als wir Max Tauts Musterschule in der heutigen Ödnis betrachten. Und noch mehr auf die Eltern und Familien. Ach, worauf kommt es denn überhaupt an, wenn man Mord und Totschlag vermeiden will und Menschenfeindlichkeit und Rassismus und die Apartheid der „Wir“, die sich von „den Anderen“ unterscheiden wollen?
Die Weimarer Republik, die sich solche Mühe mit ihren Schulen gegeben hat – wie wir hier sehen – und solche Mühe mit Wohnungen für die vielen, die bisher nur hausten – denn gleich gehen wir durch den Block, den die Giselastraße mit Münsterlandstraße, Archibaldweg und Rupprechtstraße bildet -, hat trotzdem schließlich nur wenige Freunde gehabt. Hier in der Rupprechtstraße hat übrigens einer gewohnt, Heinz Thiel, ein paar Jahre später, nach Errichtung dieser Häuser, Gestapo-Opfer, vom Kammergericht verurteilt, weil er etwas Richtiges getan hatte; die DDR hat ihn später auch nicht haben wollen, weil er immer noch richtig handeln wollte.

Kann man das so sagen? Liesel zuckt mit den Schultern: kann sein, kann sein auch nicht, wir wissen nicht genug. Nur: die Geschichten von den unprominenten Opfern, den Normal-Opfern, den Alltagshelden, was heißt Helden? von denen, die sich nicht dumm machen lassen, erzählt ja niemand. „Ach ja“, sagt Liesel, „und manchmal kommt es nur darauf an, dass man die richtigen Freunde hat und in die richtige Kneipe geht.“

Nun betrachten wir uns also die Wohnblocks, die Bruno Ahrends hier gebaut hat. Vier-, fünfgeschossig, Flachdächer, weiße Putzstreifen, rote Klinkerbänder, zurückhaltend gegliederte Fassaden, zur S-Bahn in eindrucksvoller Staffelung (sodass übrigens alle Wohnräume ganz nach Westen und nicht nach Nordwesten ausgerichtet sind, wie es die Grundstücksgrenze sonst gefordert hätte).
Zwischen Münsterlandstraße und Rupprechtstraße gibt es einen gepflasterten Durchgang; im Innenhof steht ein weiterer Block, zu dessen Türen eine fünfstufige Treppe führt, die von zeitgenössischen Kandelabern, 20er-Jahre-Leuchten, eingefasst ist, nicht in gutem Zustand zur Zeit, die Leuchten nicht und die Häuser nicht. Aber das wird sich gewiss bald ändern. Dann sieht jeder, dass auch das hier eine wohnungsbaupolitische Leistung war, die sich sehen lassen konnte, 1925 bis 1930.

Wir stehen ein paar Minuten an der Straßenecke, an der der Archibaldweg nach Westen abwinkelt und Münsterlandstraße zu heißen beginnt. Es ist ein ziemlich ruhiger Stadtpunkt, wie ein Beobachtungsposten, wenn man auch gar nicht so viel sieht; die Hochhäuser der Frankfurter Allee liegen hinter den weiten Bahnanlagen.
Ich versuche Liesel zu erklären, warum ich das für einen ganz typischen Berlin-Punkt halte; ich will nicht geradezu sagen: wer diesen Kiez nicht kennt, der kennt Berlin nicht, denn es gibt ähnliche, natürlich; aber wer nicht weiß, wie vielfach Berlin aus solchen Straßenecken und Innenhöfen besteht und wie es überall grün, grün, grün ist, der kennt Berlin wirklich nicht.

„Heißt die Straße nach Fontane?“, fragt Liesel; sie meint Archibald Douglas, ich hab es getragen sieben Jahr / ich kann es nicht tragen mehr. Ich weiß es nicht; ich kann es nicht rauskriegen, warum man (wer denn?) die Ostbahnstraße 1938 mit diesem Männernamen versehen hat. Die „Königlich-Preußische Ostbahn“, also eine frühe Staatsbahn, fuhr hier entlang seit 1857, Endpunkt: Königsberg. Denn Königsberg war die eigentliche Königsstadt der Hohenzollernkönige, nicht Berlin, in Berlin waren sie nur Kurfürsten. Für solche Dynastizitäten interessiert Liesel sich nicht, „Wissensschrott“ nennt sie das. Und damit – auf dem Weg zum Münsterlandplatz („Warum hat die DDR einen Platz, der nach der Kaiserin hieß, ausgerechnet nach dem Münsterland genannt? Hätten sie auch Sauerlandplatz sagen können“, denn Liesel stammt aus dem Sauerland) – stehen wir nun vor einem blockbebauten Straßenkarree, das mehrere Blocks zeigt, die renoviert sind, sodass wir uns vorstellen können, wie die Ahrends-Häuser aussehen werden, wenn sie demnächst auch renoviert sind, „es wird eine Oh- und Ah-Gegend werden, bestimmt“.

„Komm mal mit, sieh dir das mal an“, sagt Liesel da mit gedämpfter Stimme, als ob es ein Geheimnis gäbe. Denn hier steht im rundum blockumbauten Innenhof kein weiterer Wohnblock, sondern umzäunt von einem Privatzaun und umgeben von einem Privatgarten, der Privat-Mercedes unterm Schutzdach, eine große TV-Schüssel im blühenden Garten: ein spitzdachiges, eingeschossiges Zuckerbäckerhäuschen. „Wie haben die denn das gemacht? Wie war denn das möglich?“, das fragen wir uns nicht lange, eigentlich fragen wir’s uns gar nicht, denn eine ganze Weile lang halten wir nicht für möglich, was wir hier sehen; wie sollen wir’s nennen, wenn es einen allgemeinen Namen brauchte? Kleinstadt in der Großstadt? Individualität in der Wohnungsbaukollektivität? Es braucht aber keinen allgemeinen Namen. „Gulliver“, sagt Liesel.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Leut / CC BY-SA 3.0

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