Die einsame Pappel

Wenn man zum Schönhauser Tore hinausgeht, die Straße nach Pankow entlang, wo die bestäubten Maulbeerbäume stehen, so gelangt man, wenn man glücklich bei den lockenden Bierhäusern von Ley, Pfeffer etc. vorbeigekommen, links an einen weiten sandigen Platz, in dessen Mitte sich eine einzelne Pappel befindet.

Alles Vereinsamte, mag es lebendig oder leblos sein, erweckt unser Mitleiden. Diese melancholische Pappel scheint sich, wie Heines Fichtenbaum, zu sehnen, vielleicht nach einem der Knödelbirnbäume, die man so oft vereinzelt auf den Feldern der Neumark stehen sieht.
So war vor hundertfünfzig Jahren der Weg zu beschreiben, den ich gestern, an diesem schönen Sommertag, auch nahm: Mit der U2 – teils unter, teils über der Erde – bis Eberswalder Straße. Das Gedicht, das Robert Springer, Lehrer einer der ersten demokratischen Journalisten in Berlin, da eben gerade für diese Gegend zitiert hat, hatte ich mir auf eine gelbe Karteikarte abgeschrieben, sodass ich – die Topsstraße hinab blickend nach Westen, wo die Sonne über dem Jahn-Stadion steht – mir vorlesen könnte:
Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh‘.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.
Er träumt von einer Palme,
Die fern im Morgenland
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Die halbe Topsstraße ist grün; neben der Straße liegt – sie mit dem Sportplatz verbindend – eine kleine Straßenparkanlage, nicht sehr gepflegt, sogar etwas verkommen, um die Bänke Alltagsmüll, viele Kippen, leere Bierdosen, stinkende Hundescheiße; aber grün, Bäume, durch die der Sommerwind weht. Aber weder Fichten noch natürlich Palmen. Die Pappel jedoch, die den Redakteur der „Locomotive“ – so hieß Springers demokratische Zeitung – zu solchen lyrischen Aufschwüngen veranlasste, die in Wirklichkeit politische Abschwünge waren: die Pappel ist da; indessen – fast ist das als ein politischer Kommentar zu lesen – einsam ist sie nicht.

Ungefähr da, wo jetzt das Jahn-Stadion liegt, auch das Gelände der jetzigen Topsstraße, lag ein großer Exerzierplatz. Vor 150 Jahren staubte hier die 2. Garde-Infanterie-Brigade; der östliche Teil verwandelte sich zu Beginn des Jahrhunderts, das nun zu Ende geht, in die städtischen Spielplätze des „Exer“, wie die Kinder das Gelände hier nannten. Es gibt rührend-schöne Geschichte über die proletarischen Kindheiten um den Exer. Von Erich Schmidt zum Beispiel, später der letzte Berliner Vorsitzende der Sozialistischen Arbeiter-Jugend, der nach Amerika entkam; die Nachkriegs-SPD hatte keine Verwendung für ihn. Schmidt muss auch Hermann Tops gekannt haben, der nun den Häusern die Adresse gibt, die ein bisschen kasernenhaft, aber mit einem fast parkartigen Hof die Südseite der Straße bilden: „Private Wohnanlage. Kein öffentlicher Park“, ist angeschrieben.

Auf dem Exerzierplatz stand – ungefähr da, wo in der Mitte der Topsstraße heute eine Gedenktafel an sie erinnert – einsam eine einzige Pappel. Sie war stadtbekannt, sagen wir: kiezbekannt, man könnte sie aber auch weltbekannt nennen. Es war eine Schwarzpappel, die meisten anderen Pappeln, die sie jetzt reichlich umstehen, sind Zitterpappeln.

Ich sitze ein paar Minuten auf dem runden Findlings-Mäuerchen und betrachte den in den Schatten einladenden Baum. Ist das der berühmte, einsame Baum? Oder war er’s nur? Seine Einsamkeit ist Vergangenheit, sein Ruhm auch, selbst die Inschrift auf der flachen Tafel kann ihn nicht wieder herstellen. 1967 hat man die sich leicht bis ins historische Jahr 1848 zurück erinnernde Pappel gefällt. Aber in der Baumschule der Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ am Werbellinsee sind eine paar Reiser großgezogen worden und ein junges Bäumchen – lassen wir uns doch rühren: ein Kinde vom alten Baum, der so viel gesehen hat – ist nun der erwachsene Baum, unter dem jeder den trainierenden, nicht exerzierenden jungen Frauen und Männern im Jahn-Stadion zusehen kann.

Unter der einsamen Pappel, vor ihr und um sie, vor einer Tribüne aus Kneipentischen, fand am 26. März 1848, vier Tage, nachdem die Märzgefalllenen im Friedrichshain beerdigt waren, die erste Volksversammlung statt. Überhaupt die erste! Teilnehmer 6.000, 10.000, vielleicht sogar 20.000, die Angaben schwanken. Man hat sie nicht gezählt, die Tatsache der Masse an sich war gewaltig. Ein Tierarzt erster Klasse und ein Schneider waren die Organisatoren. Es folgten bald weitere solcher Versammlungen, den April, Mai, Juni 1848 hindurch, meist im Tiergarten, in den Zelten, nicht mehr hier draußen, in der Vorstadt; aber dies war eben die erste. Später waren es schon eher Mischungen aus Volksfest und politischer Versammlung. In Berlin herrschte an allen öffentlichen Orten „ein wahres Drängen und Wogen“; die Berliner genossen neue Freiheiten und ließen – denn das öffentliche Rauchen war vordem königlich verboten – die Zigarren nicht mehr ausgehen. „Der Märzmond des Jahres 1848 hat Berlin erst zur wirklichen Hauptstadt Preußens, überhaupt zu einer politischen modernen Stadt gemacht. Bis dahin hatte Berin kaum öffentliches Leben.“
Karl Frenzel schreibt das, stadtbekannter Theaterkritiker, ein Kollege Fontanes. Unsere einsame Pappel kann also – wenn man ein bisschen an der Geschichte rumzappelt – zu dem Ort gemacht werden, an dem Berlin anfing, Weltstadt zu werden.

Die Bauhistoriker Johann Geist und Klaus Kürvers, ein bisschen verliebt in die Gegend, in der sie ihre bauhistorischen Beispiele fanden, rechnen von hier aus sogar den Beginn einer neuen Epoche: Das Proletariat lernt, sich in eigener Sache zu äußern. Als ob Ferdinand Lasalle, Karl Marx, August Bebel mit unter der einsamen Pappel gestanden hätten. Und wirklich, „irgendwie“ standen sie da. Hier, wo jetzt die „Berlin Thunders“ im bunten Jahn-Stadion Football spielen. Die Stadion-Tore sind auf. Auf Sitz Nummer 13, Reihe 19, Block T nehme ich Platz, blicke hinab in die angenehme Leere; die Pappeln rauschen, nein: sie singen. Ein solcher Sommertag und Pappelgesang und ein bisschen „Es-war-einmal…“

Als die Häuser, hier auf dem Exer, gebaut waren, 1937, bekam die Straße den Namen von Otto Ludwig. Das war ein Nazi und SA-Mann, 47 Jahre alt, 1932 bei einer blutigen Auseinandersetzung mit Kommunisten umgekommen. Seit 1949 heißt die Straße nach Hermann Tops; das war ein Kommunist, der – 47 Jahre alt – von der deutschen Justiz – denn es reicht nicht zu sagen: von den Nazis – in Brandenburg umgebracht wurde. „Einsame Pappel“ – das wäre ein Straßenname gewesen! Die Fichte und die Palme kommen nicht zusammen. Von der Geschichte blieb nur, was übrig bleiben soll. In der Milastraße gibt es ein Lokal, das nach einem Gedicht von Theodor Fontane heißt. Es handelt von einem Birnbaum. Das Lokal hat aber leider keine Tische draußen.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

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