Die Wahrheit kommt immer zuletzt

Vor zwei Jahren – aber es kommt mir viel vergangener vor – führte mich einer meiner ersten Köpenick-Spaziergänge nach Klein-­Venedig und in den Hessenwinkel. Das sind an sich schon mal zwei Namen … wenn man sie so neben­einander stellt und nur durch eine Brücke trennt, die nach Triglaw heißt, der wendischen Dreieinigkeit, könnten sie wohl ein paar Gedanken aufgeben über die Kategorien des Passenden und des Unzusammen­gehörigen, woraus die Stadt gemacht ist. Aus solchen Kategorien ist sie eben nicht gemacht. Man kann sie nicht aus ihrer Geschichte zusammensetzen, wenn man sie als einen gegenwärtigen Text lesen will.
Dicke Regentropfen, die auf den Blättern liegengeblieben waren, fielen nun im leichten Nachmittags­wind zur Erde, der den unwetterartigen Regengüssen gefolgt war, durch die wir – das hatte sich so ergeben – im Süden um die Hauptstadt herumgefahren waren und uns ihr erst in Erkner wieder genähert hatten. Nach Erkner kommt man sonst ganz leicht. In der weit­gestreckten Stadt Berlin ist nichts wirklich weit. Die S3 braucht aus der mittigsten Mitte Berlins bis nach Erkner gerade vierzig Minuten.

Wir wollen nach Neuseeland. Vor zwei Jahren, als ich drüben, in Köpenick, im Hessenwinkel am Ende der Dämeritzstraße stand und herüberblickte auf das erknersche Ende der Dämeritzstraße, habe ich mir vorgenommen, den Blick von der anderen Seite nach­zuholen. Dort stehen wir jetzt, meine Lebensfreundin und ich; bei Kellings Schifferstube sind wir über den nassen Weg zum Ufer des Dämeritzsees hinunter­gegangen und mit „dortdortdort!“ habe ich ihr gezeigt, wo ungefähr, nicht weit von der Triglawbrücke, an der Kanalstraße im Hessenwinkel das schöne Haus steht, in dem Werner Krauss gelebt hat und gestorben ist. Dann ist er zurückgefahren worden nach Berlin-Mitte und – weil er Mitglied der Akademie der Wissenschaften war – auf dem Friedhof der Akademiker, dem Dorotheenstädtischen Friedhof, an der schönen Birkenallee, beerdigt worden.
Aha, Werner Krauss! Wer war Werner Krauss? Muss man wissen, wer Werner Krauss war? Die nette Frau, die Manne Jagusch, dem Fotografen, gestattet, das Haus Kanalstraße Nr. 35, in dem sie wohnt, auch vom Garten aus zu fotografieren, hat noch nie was von Werner Krauss gehört. Man muss zu leben wissen, das ist genug.

Der 161er Bus – acht Minuten vom S-Bahnhof Wilhelmshagen – kommt von der Fürstenwalder Allee herunter und hat seine Endstation im Hessenwinkel, Lutherstraße. „Wer’t bei dem Wetter mit’m Kreislauf hat“, ruft der Busfahrer fürsorglich vor der Rückfahrt, „der fährt jetzt gleich Achterbahn“. Wir gehen den in die westliche Rundung des Dämeritzsees eingebogenen Straßenzug aus Ahorn-, Linden- und Kanalstraße. Viele renovierte Alt- und manche Neubauten. Ganz in der Nähe des Krauss-Hauses Nr. 35 rosarote Neubauten; von den vorderen kleinen Balkons blickt der Wohnungs­eigentümer direkt auf den See und – wie gesagt – hinüber nach Neuseeland. Meine Lebensfreundin weiß schon, dass ich an die 50er Jahre denke, wenn ich Neuseeland sage. „Nie wieder deutsche Soldaten!“ hatten die Erwachsenen uns erst gesagt, als sie noch sahen, was sie angerichtet hatten. Nun stand aber doch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik an. Ich ging damals in Lübeck zur Schule, Katharineum, Unterprima: „Wohin sollen wir auswandern?“ war die ernsthafte Frage von vielen. Wir ermittelten Neusee­land. Erst später erfuhren wir von den Atomversuchen. Neuseeland ist also der Name eines Irrtums. Aber das Wort hat seinen lockenden Charakter behalten. Dorthin blicke ich, während die letzten Regentropfen im leichten Sommerwind von den dicken Blättern fallen. Ich kann mir gut vorstellen, hier zu wohnen: draußen, aber doch nicht zu sehr, verborgen, aber nicht einsam.

Manchmal gehen wir vom Büro zum Mittagessen zu einem kleinen Italiener in der Hornstraße. Am Nachbar­haus – man muss es wissen, um sie zu sehen – ist eine Plakette für Ursula Goetze, die hier wohnte. Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. Im August 1943 ist die Romanistikstudentin, siebenund­zwanzig Jahre alt, von der deutschen Justiz in Plötzen­see ermordet worden. Werner Krauss war ihr Freund. Der Romanist Prof. Krauss, jetzt Gefreiter, hatte 1942 die Erlaubnis erhalten, „außerhalb der Kompanie­Unterkunft zu wohnen“; er quartierte sich in der Hedemannstraße im Hotel Thüringer Hof ein, das Ursula Goetzes Vater gehörte. Am 18. Januar 1943 verurteilte ihn das Reichskriegsgericht zum Tode. Dann hatte er Glück. Oder wie soll man es ausdrücken, dass so einer die folgenden zwei Jahre überlebte? Im Zuchthaus in Plötzensee und im Wehrmachtsgefängnis in der Lehrter Straße schrieb er zwei Bücher, einen literarisch noch heute als neuartig zu empfindenden Roman und ein Buch über Gracian, den spanischen Jesuiten des 17. Jahrhunderts. „Diese Arbeit wurde 1943 unter besonderen Verhältnissen geschrieben. Der Verfasser war auf die ihm von wohlgesinnter Seite zur Verfügung gestellten Gracian-Ausgaben angewiesen. Sekundärlite­ratur war ihm nicht zugänglich. Wenn nach der Befrei­ung eine grundlegende Änderung nicht vorgenommen wurde, so geschah es in der Meinung, dass eine Darstel­lung der Lebenslehre Gracians auch ohne eine genauere philologisch-historische Koordinierung ein allgemeines Interesse verdienen kann.“ Wer das Buch in die Hand nimmt, liest es zu Ende.

Professor in Marburg, in Leipzig, in Berlin, Direktor des Instituts für Romanistische Sprachen und Kulturen bei der Akademie der Wissenschaften, Hessenwinkel. Die Orden, die ihm die DDR später als anderen verlieh, holte er schließlich gar nicht mehr ab. „Hier können Sie ermessen, wie man als Duodezfürst in einer soziali­stischen Gesellschaft lebt!“, sagte er über die schöne gelbe Villa in der Kanalstraße. „Politik ausweglos. Antipolitik überhaupt unwegsam. Der Sozialismus bleibt einzige Lösung, trotz seiner Diskreditierung durch (die) Praxis…“ Aller Anfang ist leicht, liest meine Lebensfreundin aus dem Gracian-Buch vor. Der Schwerpunkt der Vollendung liegt beim Ende. Die Wahrheit kommt immer zuletzt.
Ein Teil einer jeden großen Stadt besteht vielleicht doch aus dem, was man von den Menschen weiß, die sie nur noch als Tote beherbergt.

Aus: Spaziergänge in Berlin (1990er Jahre)

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*