Das kurze Leben von Radio Utopia

Heute ist es kaum noch vorstellbar, aber Anfang der 1980er Jahre war es noch kriminell, wenn man selber Radio machte. Fünf Jahre Haft gab es für das Betreiben eines illegalen Senders. Damals war RTL tatsächlich nur in Luxemburg, der Rundfunk in Deutschland war ARD und sonst nichts. Die Sender wurden von den jeweiligen Landesregierungen und Parteien kontrolliert, unabhängige Stimmen kamen kaum vor. Deshalb entstand bereits 1977 in Freiburg das Radio Dreyeckland, der erste deutschsprachige Piratensender, der vor allem über den Kampf gegen die Atomkraftwerke in Baden, Frankeich und der Schweiz informierte.

Die aufblühende autonome Szene in der Mauerstadt West-Berlin war von diesem Medium angetan. Für die breitere Kommunikation gab es damals nur Druckwerke, vor allem Flugblätter und die Zeitschrift Radikal. Der Verfassungsschutz hatte natürlich mehr als nur ein Auge drauf, immer wieder fanden Razzien in linken Druckereien statt, Verhaftungen, teilweise über Monate hinweg.
1980 tauchten dann die ersten Plakate auf: Radio UTOPIA: „Jeden Mittwoch ab 18 Uhr, irgendwo zwischen 100 und 104 MHz“. Gespannt saßen Hunderte von Linken, Hausbesetzern, Alternativen am Radio und drehten vorsichtig am Senderknopf. Ganz verrauscht hörten sie dann die Musik und die Ansage: „Hier ist Radio Utopia“. Es war ein Glücksgefühl, endlich hatte man den ersten Schritt getan zu einem eigenen Sender, der nichts von der Behäbigkeit der Öffentlich-Rechtlichen hatte, der zur Diskussion linker Politik dienen sollte. Die Ansprüche, die Erwartungen waren hoch. Utopisch hoch, insofern passte der Name genau.

Zwar gab es eine Redaktion, die aktuelle Diskussionen behandelte, aber es wurden auch Beiträge von Basisgruppen, Frauen, Schwulen, Knastgruppen usw. gesendet. Im Prinzip durfte jede unabhängige Initiative ihre Beiträge veröffentlichen.
Kaum jemand konnte jedoch eine Sendung komplett hören, denn der Sender war erstens sehr klein und er war in einem Auto untergebracht. Natürlich war die Polizei und mit ihr die Deutsche Bundespost bemüht, ihn möglichst schnell zu finden und außer Gefecht zu setzen. Also wurde der Sender in einen Lieferwagen, auch mal in einen Bus gepackt und man fuhr damit quer durch Kreuzberg und ein bisschen durch Neukölln. Die Gegenseite rüstete auf, schlich ab der zweiten Sendung mit mehreren Peilwagen durch die Gegend und versuchte, das Sendesignal zu erfassen. Also wurde ein zweiter und dritter Sender angeschafft, die dann in drei Fahrzeugen herumfuhren. Alle fünf Minuten wurde ein Sender abgeschaltet, dann war der andere dran. Gleichzeitig gab es Unterstützer, die mit Nagelbrettern bzw. Krähenfüßen die Reifen der Peilwagen zerstörten. Die Polizei hielt währenddessen wahllos Autos an, in denen sie einen der Sender vermutete, aber immer erfolglos.

Unter solch konspirativen Umständen waren tatsächliche Diskussionen natürlich nicht möglich. Es blieb letztendlich beim Abspielen vorgefertiger Beiträge. Die Radiogruppe konnte nicht offen auftreten, auch wenn sie natürlich als Personen an den wenigen öffentlichen Diskussionsveranstaltungen teilnahmen. Dort wurde versucht, die Bildung von Unterstützerkreisen zu organisieren, für inhaltliche Diskussionen, aber auch zur Finanzierung des illegalen Sendebetriebs. Doch auch wenn Radio Utopia in der Szene hoch angesehen war und von vielen gehört wurde, blieb die praktische Unterstützung ziemlich mau.

Schon nach einem Jahr wurde der Sender 1981 wieder eingestellt. Die mangelnde Unterstützung war einer der Gründe. Ein zweiter war, dass der Sprung von einer Informations- zur Diskussionsplattform nicht geschafft wurde. Auch andere Ansprüche wurden nicht erfüllt, wie der, von Demonstrationen oder Veranstaltungen zu berichten. Der Hauptgrund für die Einstellung war jedoch, dass es innerhalb der Szene immer mehr Gerüchte gab, wer wohl am Projekt Radio Utopia beteiligt sei. In mancher Kneipe wurde zu offen darüber spekuliert, manche der Radiomacher wären dabei enttarnt worden, hätte in diesem Moment ein Spitzel dabeigesessen. Doch auch innerhalb des Radiokollektivs gab es Leute, die es mit der Konspiration nicht so genau nahmen.

Trotz des massiven Verfolgungsdrucks hat die Gruppe es letztendlich geschafft, über ein Jahr hinweg einen regelmäßigen, unkontrollierten Piratensender zu organisieren. Sie hat bewiesen, dass es funktioniert und war Vorbild für eine Reihe weiterer ähnlicher Sender, die nach ihnen kamen. Zwischen 1981 und 1989 folgten Radio Durchbruch, Einbruch, Metropolis, Gaga, Donald Duck, Solidarität, SO36, Kebap, Wahnwitz, Schwarze Ratten, die Welle Wahnsinn. Es waren wohl nicht alles unterschiedliche Gruppen, manchmal nur verschiedene Namen, aber wer weiß das schon so genau. Sie hatten unterschiedliche Konzepte, manche sendeten nur Musik, andere radikale Parolen, wieder andere berichteten aus Gruppen, aus ihrer Szene, von Demonstrationen, von Bewegungen aus anderen Städten und Ländern. Allen gemein war, dass sie illegal sendeten, aus Autos, von Dachböden und auch einmal vom Wasserturm auf dem Gleisdreieckgelände, das unter der Verwaltung der DDR-Reichsbahn stand und wo die West-Polizei keinen Zugang hatte.

1986 existierte sogar ein Sender namens „Schwarzer Kanal“, der sich direkt an die Ost-Berliner Bevölkerung richtete. Er sendete unterdrückte Informationen aus dem Umweltbereich, über Verfolgung oder die DDR-Atompolitik. Hier kamen die Beiträge von der Ostseite der Mauer, die Radiowellen aus dem Westen.
Es ist den Verfolgungsbehörden nicht gelungen, die Piratensender „auf frischer Tat“ zu ertappen und jemanden der Teilnahme zu überführen. 1987 ging dann der erste legale, alternative Privatrundfunk in Berlin auf Sendung, Radio 100.

print

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*