Rot ist relativ

Als Taxifahrer kenne ich die Situation: Ich fahre auf eine Kreuzung zu, alles ist frei, da springt die Ampel auf Gelb. Während der Fahrschulausbildung habe ich gelernt, dass man dann bremsen soll, wenn man 1. nachfolgende Fahrzeuge nicht gefährdet und 2. noch sicher vor der Haltelinie zum Stehen kommt. In der Praxis gebe ich aber meist Gas und manchmal sehe ich die Ampel schon auf Rot umspringen. Wenn ich Fußgänger an der Seite bemerke, die die Straße überqueren wollen, bremse ich lieber, weil manche schon loslaufen, wenn die Autos Rot kriegen.

Andererseits gehöre ich zu den Radfahrern, die nicht bei Rot über die Kreuzung fahren. Ich kenne die Situation sehr gut von der anderen Position: Als Autofahrer kommt plötzlich ein Fahrrad von der Seite in die Kreuzung gefahren und ich muss eine Vollbremsung machen oder ein Ausweichmanöver. Sowas passiert öfter mal. Genauso wie mit Fußgängern, die bis auf ein paar Zentimeter an vorbeifahrende Autos auf die Fahrbahn gehen, um dann direkt hinter ihnen über die Straße zu laufen. Das ist für sie gefährlich und für mich stressig.

Bin ich zu Fuß unterwegs, dann halte ich mich an die Regel, nicht bei Rot zu laufen, wenn Kinder das sehen könnten. Sie orientieren sich an den Erwachsenen und wissen nicht, dass ich vorher geschaut habe, ob wirklich kein Auto kommt. Ansonsten aber gibt es meiner Meinung nach keine Notwendigkeit zu Warten, wenn die Straße frei ist. Nur weil es so im Gesetz steht, sehe ich das für mich nicht als Verpflichtung an.
Als ich vor drei Jahren in Paris war, habe ich erfreut gesehen, dass das dort alle so machen. Selbst mitten in der Innenstadt sind ganze Fußgängermassen bei Rot über die Straße gegangen, wenn kein Fahrzeug kam. Sogar Polizisten haben sich nicht darum geschert und sind ebenfalls mit rüber gelaufen.

Es gibt ja auch keinen wirklichen Grund, es nicht zu tun. Ampeln sollen doch den Menschen dienen, zur Orientierung, auch um Sicherheit zu geben. Im Prinzip sind sie Dienstleister an den Passanten. Hierzulande werden sie aber als Ordnungshüter betrachtet, als wenn da ein Polizist steht, der den Befehl zum Stehenbleiben gibt. Vermutlich ist es das deutsche Obrigkeitsdenken, dass so viele Fußgänger warten lässt. Dabei hat das mehrere negative Folgen: Die Leute verlieren Zeit, der Übergang wird zugestaut und wenn bei Grün alle gleichzeitig loslaufen, kommt man sich in die Quere. Wozu soll das gut sein?

Im Prinzip gilt das auch für Radfahrer: Wenn die Straße frei ist, also keine Fußgänger oder Fahrzeuge von der Seite kommen, sollte man auch mit dem Fahrrad bei Rot über die Kreuzung fahren dürfen.
In beiden Fällen gilt natürlich, dass man sich verantwortungsbewusst verhalten muss. Wenn ein Auto nur noch 100 Meter entfernt ist, darf man natürlich nicht die Fahrbahn betreten oder befahren. Die Vorfahrt darf man den anderen „Verkehrsteilnehmern“ nicht nehmen, weil man sonst einen Unfall riskiert.

Warum so etwas in anderen Ländern funktioniert, nicht aber in Deutschland, ist mir unklar. Vielleicht weil woanders mehr auf den Verkehr um einen selbst herum geachtet wird und man den anderen nicht als Feind, sondern als Teil des Ganzen betrachtet. Berühmt ist die Szene des einstigen ARD-Korrespondenten Ulrich Wickert, der in Paris über über die etwa acht Fahrspuren im riesigen Kreisverkehr am Place de la Concorde läuft, ohne auf den Verkehr zu achten (siehe Video unten). Die Autos weichen ihm aus oder bremsen kurz, alles geht gut. Und nicht nur bei ihm, weswegen es dort auch keine Ampeln mitten im Kreisverkehr gibt, wie z.B. am Großen Stern oder am Ernst-Reuter-Platz in Berlin. Wenn man die anderen Passanten und Fahrer als gleichberechtigt ansieht, sie mal vorlässt oder sich per Handzeichen verständigt (womit nicht der Stinkefinger gemeint ist!), dann gibt es viel weniger Probleme. Leider sehen in Deutschland aber viele im anderen ihren Feind. Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger bekriegen sich oft gegenseitig und auch untereinander, der Verkehr wird begriffen als Ort, an dem man für seine Rechte kämpfen und andere in die Schranken weisen muss.

Auch wenn es mit unseren deutschen Augen nicht so aussieht: In Städten wie Paris oder Rom herrscht nicht etwa das Recht des Stärkeren, sondern dort regiert der Pragmatismus. Ich habe früher einige Zeit in Rom gelebt und dort etwas Interessantes gelernt. Das Hupen hatte nicht wie bei uns die Funktion, den anderen von der Straße zu jagen. Es diente der Kommunikation: Man hat einmal kurz gehupt, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn der andere sah, dass man langsamer wurde, konnte er durchschlüpfen. Wenn man schneller war, ließ er einen vor. Langes Hupen hieß Vorsicht. Sicher gab es auch in Rom aggressive Fahrer, aber bei Weitem nicht so wie hier in Deutschland. Mittlerweile ist das Hupen auch in Rom verboten, aus Umweltschutzgründen.

Wenn alle sich ein bisschen mehr in den Verkehr integrieren würden, wäre es nicht schlimm, wenn Fußgänger und Radfahrer bei freier Straße auch bei Rotlicht die Straße überqueren. Aber davon sind wir wohl noch weit entfernt.

Selbstversuch von Ulrich Wickert und später Jan Böhmerman in Paris:

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https://www.youtube.com/watch?v=9B-ZW8Gh0TA
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8 Kommentare

  1. Kenne ich auf von ägypten/cairo so dass man einfach über eine mehrspurige strasse gehen kann. Man darf nur immer vorwärts gehen. Denn damit rechnen die autofahrer. Da es alle dort so machen ist kein autofahrer damit überfordert sondern das ist normal dass man rücksicht nimmt

    In deutschland kennt das keiner und die wissen nicht wie sie damit umgehen sollen also die hupen dann alle wie verrückt oder machen eine unnötige vollbremsung.

  2. Bei dem Beitrag von Ulrich Wickert fehlt noch die Szene in der er erzählt dass man das überqueren des Platzes mehrfach drehen musste, wegen Licht etc, und er die ganze Zeit nur vor einem Angst hatte – nämlich das ein deutscher Autofahrer kommt und mit seiner deutschen Einstellung, dass darf der da doch gar nicht Schimpf Zeter, und ihn überfährt. Glaube ich ihm aufs Wort
    Ansonsten stimme ich mit deinen Aussagen sehr überein. Miteinander und nicht gegeneinander ist die Devise.

  3. Also in Paris gibt es sehr wohl auch Ampeln im Kreisverkehr.
    War jedenfalls so, als ich das letzte mal mit dem Auto da war ;)
    Ansonsten sehe ich das allerdings ähnlich wie du.
    In Deutschland wird oft viel zu steif auf Rechte und Vorschriften gepocht, wo eigentlich §1 schon ausreichen sollte.

  4. Lieber Aro,

    der Artikel ist wie immer wunderbar präzise und deutlich. Den Film von Ulrich Wickert kenne ich auch. Meine Tochter könnte ein Lied davon aus Buenos Aires singen. Wahrscheinlich liegt es wirklich in den Wurzeln der Deutschen – dieses Obrigkeitsdenken. Dazu gesellen sich nach meiner Wahrnehmung auch noch der neue Egoismus, die neue Armut und dem dazugehörenden Frust und der Erfolgszwang, der sich besonders deutlich im Straßenverkehr zeigt. Jeder gegen jeden. Es scheint, als ob die Straße in Deutschland wirklich zum Kampfplatz für aufgestaute Aggressionen wird.

    Eine gute Freundin sagte es einmal ähnlich wie Du: „Die Gesetzte sollen doch FÜR die Menschen sein und nicht GEGEN sie“. Aber dafür müssten wir miteinander leben und nicht gegeneinander. Ich fürchte um dies zu erreichen muss das LEISTUNGSSTRESS deutlich reduziert, und vielleicht sogar die (sozialen???) Medien abgeschafft werden. Dann könnten sich die Menschen vielleicht wieder unvoreingenommen und unaufgehetzt begegnen.

  5. Oder wie der schreibende Kollege aus den 80`er Jahren sagte: „Bei Taxifahrern fließt jedes aufleuchtende Rot vor ihm ohne den Umweg über das Gehirn direkt in den rechten Fuß.“

  6. Lieber Aro,

    gut geschrieben wie immer. Aber das Hupen etwas mit Umweltschutz zu tun hat war mir noch nicht so ganz klar.

    Vielleicht sollte man rote Ampeln auch aus Umweltschutzgründen verbieten?! ;)

    Gruß Ortwin

  7. Haha,
    ja, das Video kenn ich auch. Und auch die Hinweise, dass es öfter gedreht werden mußte. Ist schon älter, oder?

    @5. Frank
    Nun ja, dafür müßte § 1 den Leuten aber erst einmal bekannt sein …

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  1. Aro über rote Ampeln » gestern-nacht-im-taxi.de

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