Am 24. Januar 1930 erwarb Alexander Tumarkin Meyer’s Hof. Er kümmerte sich genauso wenig um den Komplex wie seine Vorgänger. Allerdings wurde er in den ersten Jahren der Nazizeit gezwungen, etwas für das Erscheinungsbild von Meyer’s Hof zu tun, was aber nicht viel mehr als Kosmetik war. 1938 oder 1939 verschwand Tumarkin in die USA und erzählte dort, dass er als Jude rumänischer Abstammung enteignet worden sei. Nach dem Faschismus, 1950, stellte er von New York aus einen Antrag auf Wiedererstattung seines angeblich enteigneten Besitzes. Doch es stellte sich heraus, dass er gar nicht enteignet worden, sondern anscheinend vor den hohen Schulden geflohen war.
Als Tumarkin 1930 Meyer’s Hof übernahm, beantragte er bei der Städtischen Baupolizei im Bezirksamt Wedding eine Ausnahme-Regelung zur Rückverwandlung von Gewerbe- zu Wohnräumen. Das 5. Hinterhaus, das Jahre zuvor zu einem reinen Fabrikgebäude umgebaut worden war, stand zum Großteil leer. Durch die Wirtschaftskrise war an eine Neuvermietung zu Gewerbezwecken nicht zu denken, stattdessen suchten Hunderttausende eine bezahlbare Wohnung, mehrere zehntausend Menschen saßen auf der Straße. Da ließ sich natürlich aus dem Haus wieder mal ein Geschäft machen. In der Folgezeit wurden Teile des 5. Quergebäudes mit Einraum-Wohnungen bebaut, in die Menschen einzogen, die vorher in größeren Wohnungen gelebt hatten. Doch bei der riesigen Arbeitslosigkeit konnten sich viele die größere Wohnung nicht mehr leisten und mussten sich in ein einziges Zimmer quetschen.
Ansonsten wurde in Meyer’s Hof auch weiterhin nichts repariert. Am 13. April 1931 wandten sich die Mieter Heising und Köhler aus dem 2. Quergebäude an die Baupolizei: „In Anbetracht der vielen Mißstände, die in dem berüchtigten Meyershof herrschen, möchten Unterzeichnete ebenso höflich wie dringend bitten, Meyershof einen Besuch abzustatten. Die Höfe und hauptsächlich die Einfahrt von der Straße bis zum 4. Hof sind in solch schlechtem Zustand, daß Unglücksfälle gar nicht ausbleiben.
Gefährlich wirken auch die Fassaden, die man bei und nach schlechtem Wetter nur mit Lebensgefahr spazieren kann. Auch fahren hier Radfahrer, Autos und Lastautos mit großer Geschwindigkeit auf den Höfen, daß sich die Bewohner, hauptsächlich Kinder und alte Leute, in steter Lebensgefahr befinden. Nach allen Verhandlungen, die wir mit der Verwaltung und dem Hauswirt geführt haben, blieb bisher alles erfolglos.
Wir bitten nun die Baupolizei, uns in dieser Sache zu unterstützen und stehen zu jeder Zeit zur Verfügung.“*

Mit dieser Eingabe war es das erste Mal, dass zwei Mieter für alle sprachen, nicht nur für die eigenen Interessen. Bei einer Besichtigung lässt sich die Baupolizei von der Hausverwaltung mit der Zusage abspeisen, dass die nötigen Arbeiten bereits in Auftrag gegeben worden seien. Tatsächlich wurde dann aber im Juli 1931 nur damit begonnen, den Putz von den Wänden abzuklopfen, ohne ihn zu erneuern. Die Mieter in Meyer’s Hof setzten dem aber zunehmend Widerstand dagegen, weil sie zu Recht fürchteten, dass sich dadurch die Wände mit Wasser vollsaugen und das Wohnen dort noch gesundheitsschädlicher wird. Die Arbeiten wurden aufgrund des Widerstands abgebrochen.
Am 3. August 1932 ging die Mieterin Adamczak zur Baupolizei, weil das Wasser nur noch völlig verdreckt aus den Leitungen kam. Doch auch nach einer Entnahme von Wasserproben änderte sich nichts, die Mieter wurden mit ihrem Problem allein gelassen. So wurde August Heising im Oktober 1932 von den Bewohnern als Mietersprecher gewählt und verfasste einen Beschwerdebrief an die Baupolizei, in dem er verlangte, dass die Fassaden neu verputzt werden. Außerdem beschrieb er Klagen vieler Mieter über Rauchbelästigungen beim Feuern der Kochmaschinen und beim Heizen der Ofen.
„Weiterhin ist das aus der Wasserleitung fließende Wasser vollständig verschmutzt, trübe, dunkelgefärbt und ungenießbar. Ich beantrage, dem Vermieter aufzugeben, in möglichst kurzer Frist die oben angeführten Mängel beseitigen zu lassen.“

Doch wieder geschah nichts. Die Mieter hatten genug, am 29. Dezember 1932 hielten sie eine Versammlung ab. Sie beschlossen, ab dem 1. Januar 1933 solange keine Miete mehr zu zahlen, bis ihre Forderungen erfüllt werden:
1. Vollständige Renovierung des gesamten Komplexes, 2. reines Trinkwasser, 3. Rücknahme sämtlicher Exmissionsklagen, 4. Streichung der rückständigen Mieten, 5. Senkung der Mieten um 25%. Hinter diesem Beschluss standen 227 von 230 Mietparteien! Nur die drei Nazis weigerten sich, den Beschluss mitzutragen.
Zu dieser Zeit gab es in Berlin bereits eine Mieterstreikbewegung. Allerdings ist diese in der Literatur kaum belegt, man muss vor allem in der damaligen Tagespresse suchen. Und da war es vor allem die „Rote Fahne“ der KPD, die darüber berichtete: Zum Beispiel über zwei Streiks in der zu Wohnzwecken umgebauten Kaserne Neue Friedrichstraße 99 und der „Wanzenburg“, dem ehemaligen Stadtgefängnis, deren Zellen ebenfalls vermietet wurden. Fast täglich fanden sich Berichte von Häusern, die den Mietstreik beschlossen oder erfolgreich beendet hatten, von Exmittierungen, die verhindert, oder leer stehenden Wohnungen, die besetzt wurden. Begonnen hatte diese Bewegung mit dem Beschluss der Mieter von 14 Wohnhäusern in der Swinemünder Straße, und zwar in dem kurzen Abschnitt zwischen Arkonaplatz und Zionskirchplatz im Stadtbezirk Mitte. 300 Mietparteien verweigerten dort seit dem 12. August 1932 die Mietzahlung. In Hunderten von Wohnhäusern wurden in den Monaten danach Mieter-Versammlungen abgehalten, Kampfleitungen wurden gewählt.
Ursache der Streiks waren natürlich zum einen die zu hohen Mieten, zum anderen die immer höhere Zahl der Arbeitslosen, die 1932 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Eine alte Frau formulierte einen Satz, der sich dann wie ein Lauffeuer verbreitete und zum Motto der Bewegung wurde: „Erst kommt bei uns det Essen!“

Die Polizei versuchte zunächst eine Ausweitung der Streikbewegung durch Verhaftungen zu verhindern. So wurden am 18. August 1932 fast alle Mieter der Lychener Straße 18 im Prenzlauer Berg verhaftet, als sie eine Mieterversammlung abhielten. Am nächsten Tag dasselbe mit 63 Verhaftungen in der Liebenwalder Straße 41 im Wedding. Doch das konnte nicht verhindern, dass am folgenden Tag 120 Familien im umgebauten Gefängnis am Molkenmarkt, der Wanzenburg, mit dem Streik begannen. Dieser endete erstmals relativ erfolgreich, die Miete wurde um 40% herabgesetzt.
Die Mieter der Köpenicker Str. 34/35 begannen am 1. September ebenfalls zu streiken und verwandelten das ganze Haus in eine einzige Kampfburg. Meterlange, auf den Bürgersteig gemalte Pfeile wiesen in eine kleine Gasse, einen Fabrikzugang, von dem man gieichzeitig in die bestreikten Häuser gelangte. Den schmalen Hof umschlossen zwei große Mietshäuser und eine Fabrikmauer, auf der in meterhohen Buchstaben die Parole „Erst das Essen, dann die Miete“ prangte. Aus den Fenster hingen 30 rote Fahnen, vor einem Treppenaufgang stand: „Hier wird gestreikt, wir wollen leben“. Über einem Kellerfenster: „Hier verkommen unsere Kinder“. Von den 30 Kindern im Haus hatten zwölf Tuberkulose. Ein Pfeil zeigte fragend auf ein anderes Kellerloch: „Licht, Luft und Sonne für alle?“.
Dieses Haus wurde Anlauf- und Kontaktstelle der Streikbewegung, hier konnten sich Mieter aus ganz Berlin über die Methoden dieses Kampfes informieren. Und das Interesse war riesig: Zum 1. November 1932 traten abgesprochen ganze Straßenzüge in den Mietstreik, z.B. die Kösliner Straße (Wedding) und die Fischerstraße (Mitte). Ende November griff die Bewegung auch auf die großen Neubausiedlungen der Wohnungsbau-Gesellschaften über. Hier vor allem mit der Forderung für weniger Miete. Bei einer Massenversammlung der „Gagfah“-Gesellschaft, an der 7.000 Mieter teilnahmen und einer Versammlung von 2.800 „Roland“-Mietern wurden massiv Forderungen nach niedrigerer Miete laut.

Es war vor allem die KPD, die sich in der Streikbewegung engagierte, allerdings kann man nicht nur von einer KPD-Bewegung sprechen. Im November gab auch die Parteiführung der SPD bekannt, dass sie die Streiks unterstütze, sie konzentrierten sich jedoch mehr auf die Mietminderungs-Forderungen in den Neubaublöcken. Zu den katastrophalen Bedingungen in den vielen Altbauten äußerte sich die SPD kaum.

Das Loch

„Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finsteren, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat. Sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch gerade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.“

Kurt Tucholsky, 1931

Als sich Meyer’s Hof um die Jahreswende 1932/33 nun ebenfalls den Streiks anschloss, war dies ein Signal. Nun berichteten auch breitere und bürgerliche Medien ausführlicher über die Beweggründe und Ausmaße der Streikbewegung. Am 6. Januar 1933 schrieb die „Welt am Abend“ über die Verhältnisse in Meyer’s Hof:
„Die rissigen Fassaden der Hinterhanser sind mit roten Schriften überzogen, aus unzähligen Fenstern hängen rote Fahnen und von den Wänden leuchten rote Transparente. An einer kahlen Mauer schreit der Satz: „Wir wollen als Menschen leben!“, auf einem weiteren Transparent sind die Worte geschrieben: „Erst die Kinder satt, dann dem Hauswirt watt“. Überall haben die Mieter ihre Kampfansagen angebracht. Es ist ein gespenstischer Spaziergang, durch die dunklen schluchtartigen Höfe zu laufen, und überall von roter Farbe begrüßt zu werden: Die Streikleitung besteht aus kommunistischen, sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitern. Wir kämpfen um nacktes Menschenrecht, wir wehren uns unserer Haut, erklären die Mieter.
Wir gehen in eine Wohnung; ihr Inhaber, ein alter Mann, nimmt ein Glas und füllt es aus der Leitung: Es ist eine schwarzgraue, fast undurchsichtige, mit kleinen Sandkörnchen durchsetzte Flüssigkeit. In einer anderen Wohnung ist das Leitungswasser nicht schwarz, sondern gelb und milchig. Wahrscheinlich sind die Rohre versackt und verfilzt und möglicherweise verschiedene angebrochen, so daß sich der Unrat mit dem Wasser vermengen kann.
Der Steinboden im Hof hat große Löcher. Es gibt keine Nachtbeleuchtung, ein Fremder würde sich glatt die Beine brechen. Die Dächer der Häuser sind defekt: Bei Regen prasselt das Wasser in Strömen herein.
Wir gehen in die Wohnung von Frau Grou, die in einer winzigen Kammer unter der Erde haust: Das ist kein Wohnkeller mehr, denn das Fenster ist durch einen Pferdestall verdeckt, von den Wänden rinnen unaufhaltsam Wassertropftn, die die Farbe lösen und am Fußboden eine schmutzige Lache bilden. Unter dem Fensterbrett wächst dicker Schwamm, der nicht auszurotten ist.
Dann steigen wir die Treppe zum dritten Stockwerk. Über dem knapp10 Quadratmeter grofen Wohnloch befindet sich ein Klosett – die Decke hält nicht dicht, die Jauche näßt durch und tropft auf den Tisch der beiden Leute, die hier leben müssen. Eine Wand des Raumes ist gerissen, aus dem zweiten, nebenan liegenden Klosett kann man in die erbärmliche Stube hineinsehen. Das ist der Meyer-Hof, das in ganz Deutschland berüchtigte Schandstück des Nordens, der Ackerstraße.“

Wie sehr sich der Mieterstreik ausgeweitet hatte, ist nicht bekannt. Doch Ende Oktober 1932 waren allein in der Gegend um den Stettiner Bahnhof 312 Häuser mit 14.615 Mietern im Streik. Anfang1933 hatte die Streikbewegung ihren Höhepunkt, doch mit der Machtübergabe an Adolf Hitler traten plötzlich ganz andere Verhältnisse in Kraft. Seitdem gab es auch keine Informationen zu Mietstreiks mehr. Vor dem Hintergrund des verzweifelten Versuchs, doch noch einen Generalstreik als letztes Mittel gegen den sich auf allen Ebenen und mit allen Mitteln durchzusetzenden Faschismus zu organisieren, ist das zu verstehen. Man kann aber davon ausgehen, dass der Terror der Nazis überall die Weiterführung des Streiks verhindert hat.

Geschichte eines Mieterstreiks

Eines Morgens um sechs – die Jungens kamen vom Zeitungsaustragen –
Hielt vor der grauen Mietskaserne ein Plattenwagen.
In der Haustüre standen zwei Polizisten und ein Mann vom Gericht,
Die gingen drei Treppen hinauf und klopften. Man öffnete nicht.

Der Schlosser kam und brach auf. Das ganze Treppenhaus roch nach Gas.
Menschen kamen und schnupperten. Sahen sich an. Keiner sagte etwas.
Ein Schupo kam wieder herunter und hustete: „Is was passiert?“ –
„Exmittieren wird nicht mehr nötig sein! Sind schon krepiert!“

Die Tage daraufwar es stiller: gedämpfter Zank und Geschrei;
Wenn einer mit dem Verwalter Krach hatte, liefen sie alle herbei.
Und eines Abends brüllte einer durchs ganze Haus:
„Hört mal zu! Morgen früh schmeißen sie im dritten Hof einen raus!“

Am nächsten Morgen waren schon alle Hausflure und Treppen besetzt.
Die Polizisten kamen und der Mann vom Gericht: „Wer hat euch hier aufgehetzt?“
Ein alter Mann trat vor und sagte: „Wollen Sie’s probieren?
Gegen uns alle? Wir lassen hier keinen mehr exmittieren!“

Um neune gingen die Polizisten. Der Wagen fuhr leer wieder weg.
Ein Mann rief hinterher: „Nich wiederkommen! Hat doch keinen Zweck!“
Im Hof stieg einer auf den Müllkasten und sprach: „Das ist euch doch klar,
Mit der Einigkeit ist allerhand zu erreichen, nich wahr?“

Am Tage darauf kamen alle zusammen im Hof Nummer vier.
Und der alte Mann stieg auf den Müllkasten und schwang ein Papier.
„Arbeiter, hier hab ich einen Brief an den Wirt geschrieben. Hört her!
Wir zahlen bloß noch die halbe Miete. Wir können nicht mehr!“

Auf diesen Brief war vom Wirt ein kurzer Bescheid gekommen:
Er verhandle nicht, er hätte gerichtliche Schritte unternommen.
Und wieder versammelten sie sich. „Der kann doch bei uns nicht landen!“
Wir zahlen jetzt überhaupt nicht mehr. Wir streiken! Verstanden?“

Der Hauswirt setzte Gericht und Polizei in Bewegung.
Der Verwalter rannte von Tür zu Tür, rot vor Erregung.
War alles umsonst. Keiner zahlte. Da kam ein Schreiben:
„Mieten um fünfzig Prozent gesenkt. Rückstände nicht mehr einzutreiben!“

Und wieder versammelten sich alle. Da sagte der alte Mann:
„Das war der erste Erfolg. Es kommt nur auf die Einigkeit an!
Und das gilt überall, nicht bloß beim Kampf um Kammer und Küche!
Gegen unsere Geschlossenheit geht jede Macht in die Brüche.“

Erich Weinert, 1932

* Aus den drei Bänden „Das Berliner Mietshaus“ von Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers. Auf über 1.500 Seiten wird darin die Entwicklung Berlins in den vergangenen 300 Jahren nachgezeichnet. Eine Pflichtquelle, wenn man zur Berliner Historie arbeitet.

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