Um das Jahr 1800 herum wurde auch die Umgebung der Kolonie Vogtland bebaut. Der Zuzug von immer mehr – oft sehr armen – Familien machte diese Maßnahme nötig. Und mit der Wohnungsnot entwickelte sich auch die Grundstücksspekulation, was sich ja bis in unsere Tage nicht geändert hat. Daneben hatte das Bevölkerungswachstum die Folge, dass die Armut wuchs, und mit ihr die Kriminalität, mit der viele Menschen versuchten, über die Runden zu kommen. Vor allem im direkten Umkreis des Vogtlands gab es kaum eine staatliche Ordnungsmöglichkeit. Um dem entgegenzuwirken, beantragte der Landrat Pannwitz die Einrichtung einer Polizeistation, die ausschließlich für die Kolonie zuständig sein sollte. Zwar wurde dieses Revier bewilligt, allerdings nur mit einem einzigen Beamten!

So wurde der Kommissar Ebell gleichbedeutend mit dem 19. Polizeirevier. Natürlich ging das nicht lange gut, und so forderte Ebell immer wieder, sein Revier zu verstärken: »Die Handwerksburschen und Tagelöhner, die zügellos sonnabends, sonntags und montags ihr Fass feiern, sind zu stark für mich.« Weil aber Ebells Eingaben nichts nützten, ging er daran, eine Bürgerwehr aufzubauen. Ein Mühlmeister, ein Stallarbeiter, ein Weber sowie zwei Gastwirte halfen dem armen Mann, Recht und Ordnung durchzusetzen. Noch im selben Jahr schrieb Ebell, dass er auch in Zukunft nicht mehr auf die Hilfe dieser Männer verzichten möchte, und forderte deshalb vom Polizeipräsidium, sie förmlich auszuzeichnen:
»…denn die finstern Nächte des Winters nahen heran, wo ich einzig und allein nicht im Stande bin, was wirken zu können. Ruhe und Ordnung werde ich hierdurch erhalten können, und der schöne Plan wird hierdurch ins Werk gesetzt, dass die im üblen Ruf stehende Vorstadt der königlichen Residenz nicht gefährlich wird.«

Was aus diesem Vorschlag wurde, ist leider nicht mehr nachzuvollziehen, dafür wurde aber eine andere Anregung des Polizisten Ebell aufgenommen und umgesetzt. Wie schon in Berlin schlug er vor, die Straßen in und um der Kolonie mit eigenen Namen zu benennen. Außer dem Vorschlag »Straße an der Mauer« wurden alle anderen akzeptiert, und so erhielten im Dezember 1800 die Invaliden-, Chaussee-, Garten-, Berg-, Acker- und Brunnenstraße ihre Namen, die sie bis heute tragen.

Und noch einen weiteren Antrag stellte Kommissar Ebell: Um den ungeliebten Namen Neu-Voigtland loszuwerden, wollte er das Gebiet nördlich der Stadtmauer künftig als »Berliner Vorstadt« geführt wissen. Doch das wurde vom Magistrat mit der Begründung abgelehnt, dass es dann eine Verwechslungsgefahr geben könnte. Statt dessen wurde beschlossen, dieses Gebiet in »Rosenthaler Vorstadt« umzubenennen – ein Name, den es bis heute führt.

Innerhalb dieses Gebietes entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts immer mehr und immer größere Wohnhäuser. Mit dem Bau des größten Komplexes, der »Wülcknitz’schen Familienhäuser«, wurde der Anfang gemacht. Von etwa 1820 an entstanden an vielen Stellen neue Gebäude, von denen einige über 20 Familien aufnehmen konnten. Die teilweise dreistöckigen »Familienhäuser« waren aber nicht nur Hoffnung für viele obdachlose, meist arme Familien. Gleichzeitig boten sie den Grundstückseigentümern die Möglichkeit, mehr Geld mit ihrem Besitz zu verdienen, als jemals zuvor. Ein Pionier dieser Bauherren war der Kammerherr Baron Otto von Wülcknitz, der hier selbst zu Wort kommen soll:
»Vor einigen Jahren errichtete ich vor dem Hamburger Thore in der Gartenstraße mehrere Gebäude in der Absicht, teils meine Baumaterialien, bei dem jetzigen Unwert derselben zu benutzen, andernteils um durch Vermietung derselben meine Auslagen verzinset zu halten.
Der Anfang dieser Unternehmung beschränkte sich auf die Errichtung eines Familienhauses, worin 20 einzelne Wohnungen sich befanden, die so eingeteilt sind, dass eine Stube von 12 Fuß quadrat [*=umgerechnet 3,77 x 3,77 m], daneben aber eine Küche von 3,77 m* Länge und 1,88 m* Tiefe sich befindet. Da der Preis von 36 Rthl. [Reichstaler] für eine solche Wohnung dem Publico so angenehm war, dass Hunderte von Familien unbefriedigt weggehen mußten, ohne bei mir Unterkommen zu finden, so entschloß ich mich, ein größeres Familienhaus zu erbauen, worin eine große Stube, ein Alkoven, eine Küche und bei sehr vielen ein Cabinett angebracht wurde. Der Preis dieser Wohnungen, den ich bei 30-50 Rthl. setzte, entsprach ebenfalls dem Wunsch des Publikums, so daß diese Wohnungen schnell besetzt und bei mir der Gedanke rege werden mußte, diese Unternehmung zu erweitern. Ich erbaute deshalb im Jahre 1823 vier Häuser.«

Wülcknitz war der erste, aber nicht der einzige Grundbesitzer, der die Zeichen der Zeit erkannte. Von nun an sollten vor Berlins Toren etliche solcher Familienhäuser entstehen, die, billig gebaut, viel Geld bringen sollten. Und billig gebaut bedeutete, dass minderwertiges Material benutzt wurde (Wülcknitz nutzte dafür seine eigenen Wälder, um praktisch kostenlos an das Holz zu kommen).

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Bauordnung, die den Bau oder den Zustand von Neubauten regelte. Damit waren der Ausbeutung der Mieter praktisch keine Grenzen gesetzt. Doch schon bald stellte sich heraus, dass das Leben in diesen Gebäuden teilweise sehr gefährlich war, vor allem, weil sie viel zu früh vermietet wurden. Der Armenarzt Dr. Natorp wurde deshalb 1823 vom Polizeipräsidium beauftragt, die Häuser zu untersuchen, und schrieb in seinem Bericht: »In dem noch unvollendeten Gebäude wohnen in der Tat in den Kellern schon eine bedeutende Anzahl von Familien. Die Decken dieser Keller sind nicht geschalt und gerohrt, sondern mit Lehmstroh angefertigt und überweißt. Die Masse ist auch jetzt noch so nass, dass das Wasser heruntertropft, wenn die Fenster nachts zugehalten werden. Die Betten ziehen daher Feuchtigkeit, und es fühlen sich dieselben deshalb ganz klamm an. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass diese Wohnungen vor dem völligen Austrocknen der Balken nicht hätten bezogen werden müssen und dass dieselben für die Gesundheit der Bewohner höchst nachteilig einwirken müssen, um so mehr, da die Öfen an den meisten Gemächern wegen der noch unvollendeten Schornsteine ganz unerträglich rauchen, wodurch außer dem Wasserdunst auch noch Rauch in den Wohnungen vorhanden ist.
Da diese Wohnungen noch nicht einmal ausgetrocknet sind und sehr feucht sind und mehrere Familien in einer Stube wegen der teuren Miete zusammenwohnen, so können sehr leicht hierdurch ansteckende Krankheiten entstehen, weil jetzt schon, da diese Leute kaum einige Tage darin wohnen, ich bereits schon Kranke in den Kellerwohnungen zu behandeln habe. Welcher Nachteil hierdurch ferner entstehen kann, überlasse ich dem wohlweisen Ermessen Eurer wohllöblichen Armendirektion, wenn sich die ungeheure Menschenzahl in diesen Häusern so sehr vermehrt und wenn kaum eine Wohnung fertig, solche bezogen wird, da die Anzahl der Bewohner in den bereits fertiggestellten Häusern sich auf 600 Seelen beläuft und die Anzahl der Kranken sich mit jedem Tag vermehrt.«

Einige Tage später wird auch bekannt, warum die Schornsteine noch nicht fertig sind: Die Kellerwohnungen wurden bereits vermietet, bevor die erste und zweite Etage überhaupt fertig gebaut waren! Also gab es auch noch kein Dach und keine Schornsteine.

Nicht nur die Häuser, auch die restliche Infrastruktur war erbärmlich. Auf 50 Menschen kam eine Toilette (auf dem Hof), es gab keine Entwässerung und lediglich zwei Brunnen für mehr als 2.000 Bewohner. Entsprechend dieser Ausstattung benutzten viele den Hof oder die Straße als Klo, mit den entsprechenden Folgen. Die Verunreinigungen und der Gestank machten die Lebensbedingungen für die Mieter dieser Häuser noch unerträglicher.

Die Bevölkerungszahl Berlins und der umgebenden Wohngebiete hatte sich von 1816 (197.000) bis 1846 (397.000), also innerhalb von dreißig Jahren, verdoppelt. Vor allem nördlich der Stadtmauer wuchsen die Wohnquartiere, es gab kaum noch unbebaute oder durch Landwirtschaft genutzte Grundstücke. Tagelöhner und Handwerker machten einen Großteil der Bevölkerung aus.

Die Familienhäuser bedeuten eine neue Form der Unterbringung von Menschen. Gab es vorher höchstens zweistöckige Häuser, in denen ein oder zwei Familien lebten und oft auch arbeiteten, wurden nun relativ große Gebäude gebaut, in denen es eine bisher nicht gekannte Konzentration von Menschen auf einer Parzelle gab. Die offene Spekulation der Besitzer machte dabei den Regierenden weniger Sorgen als die Folgen dieser Zusammenpferchung von Menschen, nämlich Seuchen und »Unsittlichkeit«. Dazu in einem Bericht an den König:
»Eine viel wichtigere Seite dieser Angelegenheit [als die Krankheiten] ist jedoch die Berücksichtigung, zu welcher Immoralität das Zusammenwohnen so vieler Leute aus der geringen Volksklasse führt, und wo kein Beispiel oder äußerer Anstoß zum Guten wirkt, sondern nur immer die Lasterhaftigkeit der einen auch den Minderverderbten auf Abwege führt. Besonders nachteilig ist dies Beispiel für die zahlreiche Jugend, welche sich in den Häusern befindet, welche das fortdauernde Beispiel von Roheit und Unsittlichkeit vor sich sehen, das auch durch den besten Schulunterricht nicht wieder verwischt werden kann.«

Natürlich wurden weder für die Wülcknitz’schen, noch für irgendwelche anderen Familienhäuser menschlichere Bedingungen durchgesetzt. Im Gegenteil: Erstmal auf den Geschmack gekommen, gingen immer mehr Grundbesitzer dazu über, ihr Land nicht mehr für den Anbau von Weizen oder Wein zu nutzen, sondern darauf Mietshäuser zu bauen und sich damit eine goldene Nase zu verdienen. Viele der Mieter waren glücklich, endlich ein Dach über dem Kopf zu haben, doch trotz der miserablen Wohnbedingungen war die Miete für viele bald nicht mehr bezahlbar.

»Die Ehefrau des Webers Braune wurde [am 29.7.1828], da ihr Mann in dem Augenblick nicht gegenwärtig war, gefragt, ob sie ihre rückständigen Mietsabgaben zahlen könnte oder nicht, weil sonst die bereits unter Siegel belegten Sachen gepfändet würden. Daraufhin geriet dieselbe hierbei sogleich in Eifer und erwiderte, sie könne nicht zahlen, würde sich aber auch nicht auspfänden lassen. Während dem kam ihr Mann zur Tür herein, welcher ebenfalls bemerkte, dass er nicht zahlen könnte.

Die genannte Braune entfernte sich hierauf einige Augenblicke aus der Stube, stürzte aber mit einem wütenden Geschrei wieder zur Tür herein und langte, als sie bemerkte, dass der mitgenommene Arbeitsmann die Uhr von der Wand nehmen wollte, nach einem an den Boden liegenden Beil und rannte so in voller Wut mit den Worten auf uns zu: Ehe ich mir ein Stück nehmen lasse, muß erst einer sterben. Ihr Mann sowohl als wir übrigen hielten ihr sogleich die Arme, entwanden ihr das Beil und hielten sie solange fest, bis die versiegelten Sachen aus der Stube gebracht waren. Der genannte Braune äußerte, er befürchte, dass sie dennoch, wenn wir schon fort wären, ein Unglück anrichten möchte.

Das fürchterliche Fluchen und Schreien der gen. Braune hatte nicht allein die Bewohner in demselben Hause, sondern auch aus den übrigen Gebäuden in Aufruhr gebracht, so dass alle Treppen und Ausgänge mit Menschen angefüllt waren. Von allen Seiten hörten wir beleidigende Äußerungen, wir übergingen es aber mit Stillschweigen, denn zu einer Arretierung zu schreiten wäre nicht ratsam gewesen, indem die Gemüter zu sehr erbittert und aufgeregt waren.«

Als zwei Monate später weitere Pfändungen vorgenommen werden sollten, wandte sich der Magistrat an das Polizeipräsidium und bat um militärische Unterstützung, um einen ähnlichen Tumult zu verhindern. Das Präsidium antwortete noch am selben Tag, dass es den Vorschlag, eine solche Aktion mit offener Militärgewalt auszuführen, ablehne. Ein allgemeiner Aufruhr wäre nur schwer zu verhindern. In den folgenden Wochen häuften sich die Mietschulden, so dass die Stadt schließlich sogar den Einsatz mehrerer hundert bewaffneter Soldaten einplante und ankündigte. Es ist heute leider nicht mehr nachzuvollziehen, wie es die Stadt geschafft hat, die Pfändungen durchzuziehen.

Natürlich gab es auch Stimmen, die die Lebensverhältnisse in und um Berlin kritisierten. Eines der wichtigsten Beispiele ist das der Bettina von Arnim, die im Juli 1843 ihr »Königsbuch« herausbrachte. Unter dem Titel »Dies Buch gehört dem König« veröffentlichte sie eine grundlegende Kritik an den Lebensbedingungen im Reich, ganz besonders aber in der Stadt. Den Anhang mit 65 Seiten widmete sie dem Leben in den Familienhäusern.

Als im Oktober 1840 der neue König Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg, verbanden sich damit vor allem für das liberale Bürgertum viele Hoffnungen. Diese Hoffnungen schienen sich nach dem Thronwechsel durch die Berufung der Gebrüder Grimm an die Berliner Universität auch zu bestätigen. Bettina von Arnim hatte noch zu seiner Kronprinzenzeit von Friedrich Wilhelm die Garantie bekommen, die Grimms nach Berlin zu holen. Da er dieses Versprechen einlöste, vertraute sie ihm und setzte weitere Hoffnungen in ihn. Unter anderem sah sie in ihm einen »sozialen König«, der gesellschaftlich ausgleichend eingreift, einen der integriert, statt ausgrenzt. Gleichzeitig sah sie aber auch seinen reaktionären, vom Vorgänger gezeichneten Hofstaat, der dem neuen König die Sicht auf die realen Verhältnisse im Reich verstellte. Aus dieser Überzeugung heraus entschloss sie sich, ein Buch zu schreiben, das sie dem König widmen wollte und mit dem sie sich vielleicht auch selbst als politisch und sozial kompetente Beraterin empfehlen wollte. Der heute wichtigste Teil dieses Buches ist der erwähnte Anhang, von dem sie allerdings nur den kleinsten Teil selbst geschrieben hat. Auf den Anhang bezieht sich der Untertitel des Buches: »Erfahrungen eines jungen Schweizers im Voigtlande«. Der Text wurde geschrieben von dem jungen Schweizer Pädagogen Heinrich Grunholzer, der sich 1842 etwa zehn Monate in Berlin aufhielt und hier studierte. Seine Tagebucheintragungen stellten den größten Teil des Anhangs von Bettinas Buch. Die 65 Seiten gehen ausführlich auf die Lebensbedingungen und Perspektiven der in den Familienhäusern lebenden Menschen ein.

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