Wilde Jahre im Spreebogen

Wer heute im Spree­bo­gen-Drei­eck zwischen Haupt­bahn­hof, Kanz­ler­amt und Reichs­tags­ge­bäude steht, kann sich kaum vorstel­len, wie es hier noch vor eini­gen Jahren aussah. Bevor die Bundes­re­gie­rung nach Berlin zog und mit ihr auch die Büro­kra­ten und Glas­fas­sa­den­an­zug­trä­ger, die heute das Regie­rungs­vier­tel bestim­men. Die Menschen, die neuen Gebäude, die ganze Gegend, alles ist steril und abwasch­bar.
Zu Mauer­zei­ten lag der Spree­ebo­gen fast im Niemands­land. Am Nord­ein­gang des Reichs­tags ging es zur Ausstel­lung “Fragen an die deut­sche Geschichte”, Pkws und Touris­ten­busse teil­ten sich den Park­platz, ein Abste­cher zum Ufer der Spree gehörte mit zum Programm. Die Kreuze erzeug­ten eine Grusel­stim­mung.
Aber wenige Meter weiter begann der Urwald. Zwar noch auf West-Berli­ner Gebiet gele­gen trau­ten sich die Besu­cher meist nicht weiter hinein. Vor allem in den Abend­stun­den trafen sich hier dieje­ni­gen, die mit Reichs­tag und Touris­mus­at­trak­tio­nen nichts zu tun hatten. Wir Kiffer, Hippies, Schwu­len und Treber feier­ten nachts am Ufer, den Blick zum Mauer­strei­fen, der hier so manchem Sozia­lis­mus-Enttäusch­ten das Leben gekos­tet hat. Wir aber genos­sen die abend­li­che Ruhe, zeig­ten auch mal einen nack­ten Hintern Rich­tung Osten und relax­ten oder feier­ten manche Nacht hindurch.

Statt hell erleuch­te­ter Polit­zen­tra­len und Haupt­bahn­hof­aqua­ri­ums­ar­chi­tek­tur herrschte Dunkel­heit, ausge­nom­men natür­lich den ewig beleuch­te­ten Todes­strei­fen. Der alte Lehr­ter Stadt­bahn­hof und das dane­ben gele­gene Paket­post­amt verström­ten eine gemüt­li­che Ruhe, manches mal schlie­fen wir am Lager­feuer ein. Ab und zu stör­ten zwar Poli­zei­strei­fen oder die Amis mit ihren Jeeps, aber die waren auch schnell wieder weg.
Öfter dage­gen kamen die Männer. Sie trie­ben sich in den Büschen herum, anfangs wuss­ten wir gar nicht, was sie dort tun. Manche von ihnen waren mutig, sie setz­ten sich zu uns und sagten ganz offen, dass sie hier sind, weil sie Sex suchen. Einige waren jeden Abend hier, man kannte sich dann schon und trank auch zusam­men. Es waren zwei verschie­dene Welten, die sich an diesem Punkt trafen, aber die sich gegen­sei­tig tole­rier­ten und einige von uns verschwan­den auch mal mit einem ande­ren im Gebüsch, das Unbe­kannte wurde erforscht.

Nur ein paar­mal gab es rich­tig Stress, als Rechts­ra­di­kale das Gelände für sich entdeck­ten und abends dort ihre merk­wür­di­gen Kriegs­spiele machen woll­ten. Sie bedroh­ten uns immer wieder, es gab auch klei­nere Ausein­an­der­set­zun­gen. An einem Sommer­abend woll­ten sie es wissen und grif­fen uns mit etwa 20 Mann an. Sie hätten sich lieber vorher umschauen sollen, denn gerade an diesem Tag hatten wir eine große Party mit sicher 150 Leuten. Dass es auf ihrer Seite keine Schwer­ver­letz­ten gab und dass keiner von ihnen in die Spree gewor­fen wurde, lag nur daran, dass wir nicht solche Schlä­ger waren wie sie. Wir schlu­gen sie zwar zurück, woll­ten aber keine Eska­la­tion. Seit­dem hiel­ten sie sich vom Spree­bo­gen fern.

Nach dem Fall der Mauer war die Idylle schnell vorbei. Lange bevor die Bauar­bei­ten zur schö­nen neuen Regie­rungs­welt began­nen, wurde das Gelände gero­det, Touris­ten entdeck­ten es und immer mehr Berli­ner kamen auf ihrem Mauer­spa­zier­gang hier entlang.
Es gibt viele Stel­len in Berlin, die durch die Ereig­nisse 1989/90 und der darauf folgen­den Entwick­lung verschwan­den und neu erstan­den, ohne jeden Bezug auf das Gewe­sene. Bei manchen ist es nicht schade, andere vermisst man schon. Der Spree­bo­gen aber gehört zu den Orten, die eher unter der Ober­flä­che gestor­ben sind. Wir nutz­ten ihn in einer Zwischen­zeit. Dass hier einst das Alsen­vier­tel war und statt­des­sen die “Große Halle” des GröFaZ entste­hen sollte, war lange vor unse­rer Geburt. Nun ist hier alles beto­niert, ein Bundes­tags­bü­ro­ge­bäude steht auf unse­rem Platz, hell, luftig, groß­zü­gig, modern. Nur gemüt­lich ist es hier nicht mehr.

ANDI 80

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“Guten Tag, Max M., T‑Mobile, spre­che ich mit Herrn B.?” “Ja, was möch­ten Sie?” “Ich wollte Ihnen Ihre neue Funk­tion auf dem Handy vorstel­len.” “Danke, ich kenne mein Handy selber. Außer­dem ist es nicht von […]

1 Kommentar

  1. Hallo,
    ich von Beitrag zu Beitrag immer begeis­ter­ter…
    http://www.berlin-street.de wird schon fast zum tägli­chem Pflicht­pro­gramm. Danke!
    Dem Beitrag ist fast nicht hinzu zufü­gen…
    Nur, daß die geplan­ten Bauten des Herrn GröFaZ länger gehal­ten hätten als die Glas / Sicht­be­ton Bruch­bu­den dieser armse­li­gen
    “Demo­kra­tie” “Helden”…
    Ich heiße die Zeit 1933 — 1945 in keiner Form gut!!!, aber???
    Wofür steht das Glas ??? Für Trans­pa­renz ????
    Ich kann durch 500 Mrd. nicht durch­shen, geschweige daß diese Zahl in meinen Kopf will… etc.
    Viel­leicht soll­ten die in Zukunft mit den Daten bauen die sie sammeln, die Basis ist wenigs­tens “stabil”
    Klaus

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