Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit meinem lieben Taxi-Kollegen Klaus, der vor knapp einem Jahr gestorben ist. Es ging um den Marathonlauf, der einmal im Jahr die Berliner Innenstadt lahm legt. Er mochte diesen Tag, weil er mit einigen Tricks gut durch die Stadt kam, während viele Kollegen lieber frei nahmen, aus Angst vor etlichen Staus.
Letzten Sonntag war der diesjährige Marathon schon einige Stunden vorbei, die meisten Straßen waren wieder frei. Ich freute mich auf die Schicht (ja, das kommt manchmal vor).
Kaum hatte ich mich im Taxi angemeldet, ich rollte gerade auf die Straße, um zum Hauptbahnhof zu fahren, klingelte mein Handy. Ein lieber Freund war dran, der bei der Registrierungsstelle für Flüchtlinge arbeitet, ehrenamtlich und seit zwei Monaten fast täglich zwischen 12 und 16 Stunden. Wenn er um Hilfe bittet, dann kriegt er sie von mir auch.
„Kannst du vorbei kommen? Wir haben eine Familie, die muss zur Polizei gebracht werden.“
Ich habe das in den ganzen Wochen ständig gemacht, einzelne Flüchtlinge, manchmal ganze Familien in irgend eine Sammelunterkunft gebracht, zu Privatwohnungen oder auch in eine Zeltstadt. Es gibt viel zu wenig Plätze, an denen die Hilfesuchenden erstmal untergebracht werden können, und am Wochenende hat das Lageso sogar geschlossen und kann niemanden vermitteln. Behörden eben.
Die Polizeiwachen in Berlin sind angehalten, gerade in Notfällen wie am Wochenende oder wenn Kinder dabei sind, zu helfen. So sollte auch diese achtköpfige syrische Familie zur Wache in der Perleberger Straße gebracht werden. Dort schließt sich eine Kaserne an, es gibt ausreichend Platz.
Zusammen mit einer Brandenburger Helferin mit eigenem Auto fuhr ich die Familie zur Polizeiwache. Doch als wir ausgestiegen waren und klingelten, wurden wir sofort aggressiv abgewiesen. Was wir hier wollten, wer wir überhaupt seien, die Familie könnte hier nicht bleiben, höchstens draußen vor der Wache. Die Flüchtlinge wurden nach Ausweisen gefragt und als sie das nicht verstanden brüllte der Polizist sie an. Als wenn sie schwerhörig seien. Die Helferin und ich sind dann dazwischen und haben versucht zu vermitteln, denn niemand aus der Familie sprach Englisch oder Deutsch. Wir konnten klären, dass sie keine Pässe hatten, keine Ausweise, kein Geld. Der Polizist trieb sie nun in den Vorraum und versuchte uns rauszudrängen. In einem Nebensatz sagte er, dass die Flüchtlinge nun erkenntungsdienstlich behandelt würden, das werde einige Stunden dauern. Wir mussten dann das Gebäude verlassen. Stunden später, in der Nacht, sah ich die Familie bei 3 Grad Außentemperatur auf dem Bürgersteig vor der Wache liegen.
Wütend begann ich meine eigentliche Schicht. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof erhielt ich einen Funkauftrag, Hotel Steigenberger, gleich dort um die Ecke. Fünf Bayern wollten zur Lemke-Brauerei am Charlottenburger Luisenplatz. Vielleicht wollten sie sich mit dem Berliner Bier trösten, dass sie nicht dahoam auf dem Oktoberfest sein konnten. Mir war nach dem Erlebten nicht zum Reden zumute, aber als sie mich dazu drängten, erzählte ich, was zuvor passiert war. Sie waren ehrlich empört und erzählten, dass die Großeltern einst ebenfalls Flüchtlinge gewesen seien, die 1945 aus Schlesien nach Bayern gekommen waren. „Na, dös war’n Vertriebene, aber das ist eigentlich das Gleiche.“ Schön, wenn man solche Anteilnahme von Leuten erfährt, die man eigentlich so wahrnimmt, dass sie nur feiern wollen.
Gleich nach dem Abliefern der Bayern klingelte der nächste Funkauftrag an. Kaiserin-Augusta-Allee. Die Bar kenne ich nur von außen, sie macht einen unseriösen Eindruck. Aber egal, Zuhälter und Koksdealer wollen ja auch leben. Meine Fahrgästin gehörte vermutlich nicht dazu, dummerweise wusste sie auch nicht genau, wohin sie wollte. „Zum Schloss Charlottenburg erstmal, dann weiß ich weiter.“ Dies sind nicht die Angaben, die einen Taxifahrer beruhigen. Letztendlich war die Fahrt aber nur fünf Minuten lang, nachdem sie plötzlich meinte: „Ach, da vorne wohne ich ja!“.
Gut, wenn man sein Zuhause wiedererkennt.
Normalerweise würde ich von hier aus in die City West fahren, aber sonntags ist der Hauptbahnhof eine ganz gute Adresse. Auf dem halben Weg dahin kam das nächste Angebot ins Auto: Seydlitzstraße, das Bonzen-Spa, wo vorher das Freibad war, in dem die Moabiter Kinder ihren Sommer verbringen konnten. An der Einfahrt stand ein Fahrgast, wie ich ihn mir jeden Tag wünschte: Der schwarze Engländer war zwischen 1,90 und 2 Meter lang, sehr schlank und hatte eine extrem kurze Turnhose an. Dann setzte er sich auch noch direkt neben mich, ich musste mich zwingen, auf den Verkehr zu achten. John erzählte mir, dass er vormittags den Marathon gelaufen ist und sich in dem Spa gewundert hat, dass dort alle nackt herum laufen. Ich machte mir so meine Gedanken…
Nachdem ich ihn in seinem Hotel nahe des Kudamms abgeliefert hatte, sprangen mir vier extrem nervige Rheinländer ins Auto, die Tour zum Hotel Berlin war sehr laut und unangenehm. Dort wurde ich von fünf Iren angesprochen, die ein Restaurant in der Köthener Straße suchten. Der Name sagte mir nichts, aber glücklicherweise hatten sie die Hausnummer. Dumm nur, dass die Straße gar nicht so lang ist, eine 60er Nummer gibt es dort nicht. Das irische Englisch war nicht wirklich zu verstehen Dann tauchten noch die Versionen Kottbusser oder Koburger Straße auf, aber auch die sind nicht so lang.
Wir überlegten hin und her, nach einigen Minuten fiel mir auf, dass einer von ihnen versuchte, den Namen vom Handydisplay abzulesen. „Show me the cell phone“, sagte ich, und alle fingen an zu lachen. Daran hatten sie nicht gedacht. Das Rätsel löste sich schnell, wir mussten in die Choriner Straße im Prenzlauer Berg. Das war dann schnell erledigt und ihr Trinkgeld fiel ungewöhnlich hoch aus.
Danach erreichte ich endlich den Hauptbahnhof, ich musste nur kurz warten. Die folgende Tour brachte mich nicht weit, Emdener Straße in Moabit. Auf der kurzen Fahrt erzählte mein Fahrgast von seinem Umzug nach Berlin, aus einem 100-Leute-Dorf direkt in den Moloch, wie er das nannte. Sein Strategie ist, Berlin in lauter einzelne Dörfer oder Kleinstädte aufzuteilen, so ist das leichter zu überschauen. Und letztendlich ist das auch: Die Stadtteile Berlins sind ja einst tatsächlich aus vielen einzelnen Gemeinden entstanden.
Als er gerade ausgestiegen war, kam der nächste Funkauftrag: Restaurant Neumanns, fünf Personen. Dies waren Dänen, die zum Azimut wollten und mir ausgiebig erklärten, wo sich das Hotel befindet. Mit „ikke Problemer“ erklärte ich in ihrer Sprache, dass ich das Azimut kenne. Doch während der gesamten Fahrt wollten sie mir erklären, wie ich dort hin käme. Am Hotel angekommen lobten sie sich dann selbst dafür, dass sie mir den Weg so gut erklärt haben.
Ich kam wieder nicht weit. Nach 200 Metern winkte mich der Doorman des Waldorf Astoria und ins Auto stieg eine jüngere Frau. Die Tour ging nach Friedrichshain und war auf andere Art sehr unterhaltsam. Sie hat heute mit Musikveranstaltern zu tun, die ich vor über 20 Jahren von meiner damaligen Arbeit kannte. Wir tauschten unsere Erfahrungen mit denen aus und lästerten über sie. Das war sehr erfrischend.
Sonntags im Friedrichshain bedeutet Kundschaft am Berghain. Die fünf Moabiter Jungs wollten in die Turmstraße und lästerten die ganze Zeit darüber, dass einer von denen im Berghain von einer Frau angebaggert wurde, aber nicht angebissen hat. Nicht weil er schwul wäre oder keine Lust gehabt hätte, sondern er war einfach zu schüchtern.
Fast am Ziel angekommen meinte einer der anderen, dass neben ihm auf dem Klo ein Mann „mit so einem Lederdings“ stand, vorn nur mit Eierbecher und hinten offen. Und der hätte ihn wohl sehr interessiert angestarrt.
Mehr erzählte er nicht, aber es war klar, dass die anderen darauf einstiegen: „Und, was haste gemacht?“
Doch der Kerl sagte nur: „Was im Berghain passiert, bleibt auch im Berghain.“ Wie die anderen habe ich das nur als Spruch aufgenommen, aber wer weiß…
Am abendlichen Hauptbahnhof kommten sonntags die Pendler an, junge Soldaten, Angestellte der Ministerien, Studenten, die das Wochenende bei Mami vebracht haben. Die Sekretärin war eine eher graue Maus, die vermutlich in ihrem Job alles überblickt und beherrscht, ohne mit eigenen Ideen aufzumucken. Jedenfalls kenne ich jetzt nicht nur das Charlottenburger Hotel, in dem sie derzeit wochentags wohnt, sondern auch so ziemlich alles, was ihren Job betrifft. Man merkte wie gut es ihr tat, dass mal jemand zuhörte. Aber mir blieb ja auch nichts anderes übrig. Ich verstehe aber nicht, wieso sie seit fünf Jahren jede Woche von Hannover nach Berlin pendelt, anstatt ganz hier her zu ziehen. Und auch nicht, wieso sie die angeblich so verhasste Arbeit nicht hinschmeißt und sich was anderes sucht. Als sie dann sagte, dass sie ja nicht anderes kann und das schon seit 30 Jahren macht, staunte ich doch. Immerhin hatte ich sie auf Mitte 30 geschätzt. Der miese Job scheint jung zu halten.
Danach war erstmal Flaute. Gegen Mitternacht cruiste ich durch die City West, Schöneberg, Mitte. Ein Blick aufs Display zeigte mir, dass am Hauptbahnhof gleich drei ICEs aus München, Hamburg und Köln ankommen würden. Das lohnt sich um diese Zeit auf jeden Fall. Ins Taxi purzelte mir dann ein junges Pärchen, das nach Kreuzberg musste. Leider war deren Laune sehr schlecht und ich gab mir alle Mühe, dass das nicht auf mich abfärbte. Es ist beeindruckend, wie sich Stimmungen oft recht schnell übertragen obwohl man mit der Ursache der Laune gar nichts zu tun hat. Das gilt für gute, wie für schlechte Stimmungen. Aber ich bin schon froh, wenn niemand versucht, mich armen Taxifahrer in der gegenseitigen Anmache auf seine Seite zu ziehen.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten und kaum waren sie ausgestiegen, klingelte mein Telefon und ein lieber Freund war dran. Er wollte, dass ich zu ihm komme, wir was zusammen essen und noch ein bisschen Spaß zusammen haben. Bevor ich mich aber entscheiden onnte, stieg ein Mann ein, der mir sein Fahrziel nannte und den es offenbar auch nicht interessierte, dass ich gerade telefonierte. Aber so ist das manchmal, nur wir Taxifahrer haben wirklich gute Manieren.
Da das Ziel wieder fast am Bahnhof lag, habe ich dort noch eine letzte Runde gedreht, der letzte Zug aus Zürich war schon seit einigen Minuten durch, danach läuft da nicht mehr viel.
Von wegen: Bestimmt 50 Leute standen am Taxistand, kein Kollege in Sicht. So hab ich es gern. Und ungewöhnlicherweise haben die Fahrgäste sogar eine Schlange gebildet, was dort wirklich selten vorkommt. Ganz vorn stand eine ältere Dame. Als ich gerade anhielt, sprang aber ein jüngerer Mann von der anderen Seite ins Auto und sagte nur unfreundlich „Schöneberg“. Ein solch rücksichtsloses Verhalten mag ich nicht und erst recht nicht, wenn man einen wehrlosen Menschen zur Seite drückt. Also entgegnete ich im selben motzigen Ton „Aussteigen!“
Er glaube nicht richtig verstanden zu haben, aber ich drehte mich um und sagte laut: „Raus!“ Das hat ihn überzeugt, schimpfend stieg er wieder aus dem Auto.
Ich ging um den Wagen herum, nahm der Dame den Koffer ab und fuhr mit ihr nach Mariendorf. Auf dem Weg lobte sie mich für mein Verhalten, obwohl eigentlich nicht so besonders war. Und gelohnt hatte es sich ja für mich auch.
Nach der Fahrt war ich so müde, dass ich die Fackel und den Funk abschaltete und Richtung Bettchen fuhr. Erst dann fiel mir ein, dass ich mich ja eigentlich mit dem Freund treffen wollte. Aber dafür war es jetzt zu spät.
Holla, schön mal wieder so ausführlich von einer ganzen Nacht zu lesen. Hab ich mir zur gegenteiligen Zeit in der Sonne auf den Treppen der Stuttgarter Oper zu Gemüte geführt. :)
Unter Night on Earth habe ich glaube ich einen meiner Lieblingsbeiträge aus deinem Buch in Erinnerung, auch wenn diese Nacht ganz anders war.
Mich würde interessieren was du damals mit Musikveranstaltern zu tun hattest…
Auf die Arbeit freuen ist gut, Freunde treffen aber auch. Nächstes Mal wieder.
Grüße von der Sonne in die Nacht
Das mit den Musikveranstaltern findet auch mein Interesse ;)
Und ja, wirklich schön ausführlich. Die Behandlung der Flüchtlinge ist (mal wieder) unmöglich. Aber an Wehrlosen kann man ja seine Wut auslassen …
„Was im Berghain passiert, bleibt im Berghain“ ;) Und sich anbaggern lassen von einer Frau und nicht anbeissen? Eijeijei.
Den gemeinsamen Veranstalter kannte ich noch aus den 1980er Jahren, wir haben Konzerte und Touren mit osteuropäischen Künstlern gemacht, meist Pop/Rockbands.
Später habe ich noch ne Weile fürs SO36 gearbeitet, aber nur ein Jahr oder so.