Indien in Moabit

Vor vielen Jahren wohnte ich einige Monate in einer indi­schen Groß­stadt, in einem bürger­li­chen Vier­tel, nach dorti­gen Verhält­nis­sen. Nicht weit entfernt gab es einen Slum, dort lebten mehr als eine halbe Million Menschen. Manch­mal gab es sowas wie eine Armen­spei­sung, aus einem LKW heraus. Orga­ni­siert hatte das eine christ­li­che Gemeinde, auch wenn Chen­nai haupt­säch­lich hindu­is­tisch geprägt ist. Wenn der Last­wa­gen kam, ging man lieber von der Straße weg, denn dann begann der Sturm auf das Essen. Da es immer zu wenig war, versuchte jeder, möglichst weit nach vorn zu kommen. Es wurde gedrän­gelt und irgend­wann auch geprü­gelt. Alle paar Tage das glei­che Bild. Durch­ge­setzt haben sich natür­lich die Stärks­ten.

Jahre später, Moabit im Novem­ber 2015. Morgens um 2 Uhr stehen an der Erst­auf­nah­me­stelle für Flücht­linge rund 500 Menschen. In den vergan­ge­nen Tagen waren es mal weni­ger, es ist jede Nacht anders. Ein Teil von ihnen wartet noch immer darauf, irgend­wo­her einen Schlaf­platz zu bekom­men und mit einem Bus dort hinge­fah­ren zu werden. Doch es fahren keine Busse, es gibt heute keine Plätze mehr. Nur ein einzel­ner Poli­zei­bus kann noch­mal 50 von ihnen mitneh­men, er bringt sie zu einem Hangar des Flug­ha­fens Tempel­hof.

Die ande­ren sind dort, um den kost­ba­ren Platz direkt am Zaun nicht zu verlie­ren. Um 4 Uhr öffnet das erste Tor, um 8 Uhr das eigent­li­che Amt. Wer vorn steht, hat die besten Chan­cen, an diesem Tag regis­triert zu werden. Manche haben das auch schon hinter sich, brau­chen eine Verlän­ge­rung oder irgend­eine Beschei­ni­gung. Am Ende des Tages sind aber immer mehr Menschen übrig, als rein­ge­kom­men sind. Deshalb sind viele seit Tagen hier, manche sogar seit Wochen.
Ich bin an Chen­nai erin­nert. Sie alle stehen an dem dünnen Bauzaun, gehen keinen Zenti­me­ter zur Seite. Wer versucht hinüber zu klet­tern, wird vom Wach­schutz und der Poli­zei daran gehin­dert, notfalls mit Gewalt. Seit vor ein paar Wochen hundert Männer quer über wartende Frauen und Kindern getram­pelt sind, nur um vor ihnen auf dem Gelände zu sein, wurde der Wach­schutz verstärkt und die Poli­zei ist nun stän­dig vor Ort. Obwohl ihre Kaserne nur wenige hundert Meter entfernt ist, war sie schon mehr­mals zu spät hier.
Vor eini­gen Tagen eska­lierte die Situa­tion mitten in der Nacht. Die Warten­den verlo­ren die Nerven, schrien, schlu­gen um sich und stürm­ten schließ­lich das Gelände. Fast jede Nacht gibt es brenz­lige Situa­tio­nen, müssen Wach­schutz und Poli­zei eingrei­fen.

Während­des­sen versu­chen viele Flücht­linge im Schutz der Nacht auf ande­rem Weg auf das Gelände zu kommen und sich zu verste­cken. Alle paar Minu­ten sieht man Einzelne oder kleine Grup­pen die Stra­ßen um den Block entlang schlei­chen. Sie rütteln an alle Haus­tü­ren, um einen Weg auf das Grund­stück zu finden. Bei einer Mauer am Spiel­platz Lübe­cker Straße hat die Haus­ver­wal­tung deshalb schon Stachel­draht ange­bracht, der Park­platz einer klei­nen Kirche in der Bandel­straße ist ein belieb­ter Platz zum Eindrin­gen, ebenso der Hof eines Hauses hundert Meter weiter.
Der Wach­schutz kennt die Stel­len natür­lich längst und fängt die Flücht­linge auf dem Gelände ab, die es über die Mauer geschafft haben. Sie durch­su­chen nachts die Büsche, die vielen Ecken auf dem eins­ti­gen Kran­ken­haus­areal. Wenn jemand erwischt wurde, wird er vom Grund­stück gewor­fen, doch nicht jeder will sich kampf­los raus­schmei­ßen lassen. So kommt es auch dort zu Gewalt.

Wer nachts an der Turm­straße entlang geht, sieht die Gestran­de­ten über­all. Sie kampie­ren in Haus­ein­gän­gen, eine ganze Fami­lien liegt in der Einfahrt einer Tief­ga­rage, über­all schla­fen auch Einzelne an den Haus­wän­den. Die meis­ten haben nur die Decken der Helfer dabei, eine Tüte oder eine Tasche mit Klei­dung. Mehr haben sie auf der Reise aus Syrien oder Afgha­ni­stan, über das Mittel­meer, nicht retten können. Die meis­ten sind Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die Stärks­ten. Denn schon diese Reise siebt dieje­ni­gen aus, die zu schwach sind. Und die, die es bis nach Moabit geschafft haben, wollen sich die Chance hier nicht mehr nehmen lassen. Wer wie sie oft schlimme Erfah­run­gen hat, vom Krieg in Syrien oder den Tali­ban in Afgha­ni­stan geflo­hen ist, der will hier in Deutsch­land nicht an der Büro­kra­tie schei­tern, an einem billi­gen Bauzaun vor der Regis­trie­rungs­stelle.

Dane­ben gibt es aber auch die ande­ren, die trau­ma­ti­sier­ten Stil­len. Wie den bärti­gen Mann in den zerris­se­nen Klamot­ten, der schon seit Tagen wort­los an der Wand der Post steht. Als ich ihm eine Banane schenkte, nahm er das gar nicht rich­tig wahr. Oder die ältere Frau, deren kleine Kinder um sie herum rennen, ohne dass sie sich noch um sie kümmert.

Was hier seit Mona­ten am Lageso-Gelände passiert, ist unbe­schreib­lich. Es ist eine Kata­stro­phe. Der Senat schafft es nicht, die Situa­tion grund­le­gend zu verbes­sern, der zustän­dige Sena­tor Czaja beschwich­tigt nur. Wenigs­tens entste­hen derzeit täglich neue Unter­künfte, in Turn­hal­len, auf dem Messe­ge­lände, dem alten Flug­ha­fen Tempel­hof. Doch hier beim Lageso herr­schen noch immer Zustände, wie ich sie damals in Indien kennen lernte. Ganz beson­ders in der Nacht.

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Zufallstreffer

Erinnerungen

Kollektiv

Damals in der Haupt­­schule hat man sich nicht die Mühe gemacht, uns die latei­ni­schen Begriffe für Haupt‑, Tu- oder Eigen­schafts­wör­ter beizu­brin­gen. Bis heute komme ich damit noch durch­ein­an­der, tja, was Häns­chen nicht lernt… Eines dieser […]

8 Kommentare

    • @mime Die Frage ist, ob es einen Staat gibt, der deut­lich huma­ner oder “unka­pi­ta­lis­ti­scher” funk­tio­niert. Bis 1990 gab es ja mal einen untaug­li­chen Versuch. Ich fürchte, der gegen­wär­tige Mensch ist leider dem Schim­pan­sen näher als dem Bonobo, als dass ein größe­res Gemein­we­sen auf altru­is­ti­sche Weise funk­tio­nie­ren kann. Bis dahin bleibt es jedem selbst über­las­sen, die Welt — im Rahmen seiner Möglich­kei­ten — ein Stück­chen besser zu machen.

  1. Der Zustand in der Turm­str. ist wirk­lich eine Kata­stro­phe und zeigt sehr uns deut­lich, wie unser System funk­tio­niert. Es ist furcht­bar wie der grund­sätz­li­che Unwille unse­rer Volks­ver­te­ter zu helfen — Stück für Stück nach unten — eben doch durch­ge­setzt wird, bis es der Wach­schutz mit Gewalt regelt.
    In einem klei­nen Arti­kel hatte ich neulich prophe­zeit, dass der Umgang mit unse­ren Schwächs­ten uns zeigen wird, wie die Zukunft der gesam­ten Mensch­heit ausse­hen kann. Wobei nicht zu unter­schät­zen ist, dass wir uns alle ganz gut in unse­rem Reich­tum fühlen und abge­ben nun einmal weh tut. So gese­hen, ist es viel­leicht eben doch des Volkes mehr­heit­li­cher (heim­li­cher) Wille der dort geschieht…
    Nach dann Frohe Weih­nach­ten. Dann sind die Kirchen einmal voll und christ­li­che Lieder werden gesun­gen! Aber erst nach dem wochen­lan­gen Konsum­stress und dem Braten.

    • @Michael Helle­brand: Der Zustand am Lageso zeigt m. E. vor allem, dass eine ohne­hin schon über­las­tete (meinet­we­gen auch: unfä­hige) Stadt­ver­wal­tung mit der Zahl der Menschen schlicht­weg über­for­dert ist. Und wenn dann noch Kommu­nal­po­li­ti­ker dazu­kom­men, die nicht können oder wollen, läuft es eben so wie beschrie­ben.
      Aber es gibt auch zahl­rei­che Städte in Deutsch­land, wo die Unter­brin­gung bzw. Verwal­tung der gros­sen Zahl an Flücht­lin­gen vergleichs­weise gut funk­tio­niert.

  2. Lieber Bernd,
    danke für deine Antwort und den freund­li­chen Hinweis, dass es andere Gemein­den gibt, wo die Dinge besser laufen als bei uns hier. Berlin wird seit über 1o Jahren syste­ma­tisch kaputt gespart. Ich selbst habe damals schon den Klas­sen­raum meiner Toch­ter höchs­selbst mit den ande­ren Vätern und Müttern auf eigene Kosten reno­viert. Ledig­lich in Mitte wird das Schein­bild einer funk­tio­nie­ren­den Stadt aufrecht­erhal­ten. Der Bau der U‑Bahnlinie 55, die Sanie­rung der Oper und der Neubau des Stadt­schlos­ses sind seit Jahren unüber­seh­bar und vermit­teln den Besu­chern den Anschein von Fort­schritt. Gesamt­kos­ten dieser 3 Projekte ca. 2 Mrd Euro. Fast alles Pres­ti­ge­pro­jekte vom Senat — nament­lich Herrn Wowe­reit. Ist man freund­lich kann man den Herren des Berli­ner Senats mindes­tens Unfä­hig­keit zu spre­chen.
    Benö­tigt man ande­rer­seits z.B. einen Termin beim Bürger­amt, sind sämt­li­che Online-Termine bereits nach 10 Minu­ten vergrif­fen und so wartet man schon mal 8 Wochen oder länger auf einen Termin für die Bean­tra­gung eines Reise­pas­ses. Unter­des­sen kann man jedoch bei dubio­sen Firmen schnel­lere Termine kaufen! So entsteht aus dieser Unfä­hig­keit ein wunder BARES Geschäfts­mo­dell. Übri­gens nur 500 m neben dem LaGeSo.

  3. Lieber Michael,
    ich danke dir für deine ausführ­li­che Antwort. Selbst als regel­mä­ßi­ger Tourist bekommt man von den ganzen Proble­men kaum etwas mit, auch wenn man sich wie ich, gerne ausser­halb von Mitte und per Rad bewegt. Das vermit­telt dann ledig­lich die Online-Lektüre von Tsp. und Berl. Zeitung. Wie kann es sein, dass so ein Senat nicht von den Bürgern in die Wüste geschickt wird?
    In meiner klei­nen Groß­stadt trifft man die verant­wort­li­chen Poli­ti­ker immer mal wieder und über­all von Frisör bis U‑Bahn. Würden hier Zustände wie vor dem Lageso herr­schen, stün­den die Bürger am nächs­ten Tag im Rathaus und würde sich nichts ändern, ändern sich die Mehr­hei­ten bei der nächs­ten Wahl (Es bleibt die Frage, ob was besse­res nach­kommt…). Und das düfte auch in den meis­ten größe­ren Städ­ten so sein. (Vor kurzem las oder hörte ich von Mann­heim, wo viele Tausend Flücht­linge vorläu­fig in einer gros­sen ehem. US-Kaser­nen­sied­lung rela­tiv proble­marm unter­ge­bracht sind)
    Pres­ti­ge­pro­jekte gibt es wohl über­all, in München die zweite S‑Bahn-Stamm­stre­cke mit Kosten von über 2 Mrd. Aber mit vollen Hosen ist gut stin­ken! King Seeho­fer scheint aber gerade die 3.Startbahn für MUC persön­lich zu beer­di­gen. Noch eine Beob­ach­tung am Rande: Bei gele­gent­li­chen Besu­chen in München-Neuper­lach mit Bauten ähnlich wie in Marzahn staune ich immer wieder über die gepfleg­ten und von Vanda­lis­mus unbe­hel­lig­ten Anla­gen. Von der Archi­tek­tur abge­se­hen erin­nert das eher an Froh­nau oder Zehlen­dorf.
    Das Berli­ner Lais­sez fair und ein wenig “Gammel” hat seinen Charme, vor allem gegen­über dem geleck­ten, reichen Südbay­ern oder weiten Teilen Ba-Wü, aber zu viel sollte es halt auch nicht sein. Ein weites Feld…

    • Hallo Bernd K.,
      dass sich hier viele nicht mehr über die Zustände aufre­gen hat vermut­lich den Grund, dass man mit der Zeit vieles (zwangs)lockerer sieht. Resi­gna­tion, Gleich­mut, Cool­ness. Man ist ja schon froh über das, was funk­tio­niert. Ande­rer­seits habe ich schon in meiner Jugend gelernt, dass man einfach selber macht, was nicht funzt. In den Berei­chen, in denen es möglich ist. Ich glaube, das ist hier auch mehr veran­kert als z.B. in München.

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