Schwere Kindheit und die Erfüllung eines Traums

Meine Kindheit und frühe Jugend waren nicht gerade heiter oder glücklich. Meine Eltern hatten mit 30 Jahren geheiratet, mein Vater war Geschäftsführer in der Berufs-Genossenschaft der Papiermacher. Am Ende des ersten Ehejahres hatte meine Mutter eine Totgeburt. Danach mussten die Eltern neun Jahre warten, bis ich dann endlich kam – zu ihrer großen Freude. Inzwischen waren sie nach Frankfurt/Oder übersiedelt, wohin Vater versetzt worden war. Er wurde in Berlin eines Tages von seinem Chef gefragt, ob er sich zutraute, in Frankfurt eine Sektion der Berufsgenossenschaft aufzubauen und er meinte, wenn Sie mir das zutrauen, traue ich es mir auch zu. Er nahm einige Herren aus Berlin mit. Die Arbeit tat er gern und die Eltern sollen sich in Frankfurt wohl gefühlt haben.
Ich wurde im April 1907 getauft. Berliner Verwandte kamen herüber, und es wurde später in der Familie erzählt, dass mein Vater an diesem Tage noch heiter und gesellig gewesen war und eine eindrucksvolle Tischrede gehalten habe.
Im gleichen Jahre, 1907, war er dann zweimal wegen völliger Nervenzerrüttung im städtischen Krankenhaus in Frankfurt. Nach der zweiten Behandlung wurde meiner Mutter gesagt, dass er ein unheilbares Gehirnleiden hätte und in eine Nervenheilanstalt überführt werden müsse. Das war ein unvorstellbarer Schreck für meine Mutter. Zuerst die Freude über das Kind und die gehobene Stellung, überhaupt eine glückliche Ehe – und dann das. Es war auch wirtschaftlich eine Katastrophe: Vater wurde mit 41 Jahren pensioniert und starb später mit 49 Jahren, also da kann man sich vorstellen, wie klein die Pension war, von der Mutter und ich leben mussten. Vater hatte eine mittlere Beamtenstellung, er hatte kein Abitur.
Mein Vater kam also in die Nervenheilanstalt in Eberswalde, die für unseren damaligen Wohnort Frankfurt zuständig war. Ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr an ihn, da mich meine Mutter, als ich drei Jahre alt war, nicht mehr auf ihren Besuchen zu ihm mitnahm. Ich sollte seinen Verfall nicht miterleben. Zur wirtschaftlichen Situation vergaß ich noch zu sagen, dass 2/3 seiner Pension nach Eberswalde zu seinem Unterhalt gingen, von dem 3. Drittel durften Mutter und ich leben. Wie sie das geschafft hat, weiß ich nicht. Sie war sehr ruhig und ernst, aber liebevoll im Umgang mit mir und klagte und jammerte nie. Sie zog sehr bald mit mir nach Berlin zurück, wo wir Verwandte hatten, zunächst in eine angeblich hübsche Wohnung nach Steglitz, nach einem Jahr zog sie aber mit einer Schwester zusammen in eine 3-Zi.-Wohnung in die Bayreuther Straße. Diese Tante, unverheiratet, habe ich sehr geliebt, es ging harmonisch bei uns zu. Mutter schickte mich dann in die Aug. Viktoria Schule in die Nürnberger Straße, ein 10-klassiges Lyzeum. Vom 4. Schuljahr an hatte ich eine Freistelle. In den ersten sieben Jahren ging ich weder ungern noch sehr gern zur Schule. Dann aber, in den letzten drei Jahren, lebte ich auf, schwärmte für unseren derzeitigen Ordinarius, bei dem wir Deutsch, Religion und Geschichte hatten und war richtig glücklich. Es ist sehr schwer, über diesen Mann, er war damals Mitte 30 und verheiratet, im ersten Weltkrieg gewesen, in weniges Sätzen Umfassendes zu sagen. Dass er von uns unbedingte Aufmerksamkeit, Disziplin und Fleiß erwartete, merkten wir vor lauter Eifer kaum. Jeden Stoff brachte er lebendig, eingebettet in seine Geschichtsphase, jede Epoche wurde nach Entwicklung und Störfaktoren etc. behandelt. Er fragte Einzelne von uns plötzlich mitten im Unterricht, ob sie das gerade Behandelte verstanden haben und wenn nicht, warum sie denn nicht frage. Bei Aufsätzen gab er uns 2 oder 3 Themen zur Wahl (für uns z.Zt. ganz neu!). Bei Gedichten eines Autoren konnten wir unter mehreren einen auswählen, das wir lernten.
In Religion, damals hauptsächlich Kirchengeschichte, brachte er den Stoff nicht nur so lebendig und mitreißend wie alles andere, sondern man merkte allmählich, dass er ein ganz bewusster, gläubiger Christ war. Er gehörte in seiner Wohngemeinde nicht nur zum Gemeinde-Kirchenrat, sondern auch zum Kreiskirchenrat und schließlich zur ev. Generalsynode. Wenn die tagte, einmal im Jahr, durfte er zwei Tage in der Schule fehlen. Ohne dass er uns im Religionsunterricht irgendwie bedrängen oder „bekehren“ wollte, bezeugte er ganz sachte und fast insgeheim, dass es sich besser leben lässt, wenn man sich in der Kirche oder im Glauben geborgen fühlt. Er hatte, als er unsere Klasse übernahm, allen – wir hatten viele Jüdinnen bei uns – gesagt, dass er uns gern, wenn wir uns mal in Nöten oder Problemen, welcher Art auch immer, glaubten, in Einzelgesprächen zur Verfügung stünde. Davon habe ich im Laufe der drei Jahre öfter Gebrauch gemacht. Er wurde, auch nach der Schulzeit, so eine Art Vaterfigur für mich, die ich ja sehr brauchte. Er hat als Pädagogen eine steile Aufwärtskarriere gemacht – vom Studienrat zum Oberstudien-Direktor und schließlich zum Oberschulrat. Das Provinzial-Schulkollegium, seine Dienststelle, löste Hitler später auf, er wurde wie alle heraus geschmissen (ohne jede politische Tätigkeit) und durfte dann bei Beibehaltung von Titel und Gehalt als Studienrat (!) weiterarbeiten. Dort – in Dahlem – war er in einer Lehrerkonferenz ausschlaggebend beteiligt, dass die Tochter vom Kultusminister Rust nicht versetzt werden konnte. Er konnte ihr in Deutsch keine 3 mehr geben. Einige Wochen danach wurde er – ohne Angabe von Gründen – nach Königsberg versetzt, es war schon Anfang des Krieges. Dort kam er in den Volkssturm und wurde als die Russen anrückten, gefangen genommen und nach Sibirien verschleppt. Von seiner Frau konnte er sich nicht einmal verabschieden.
Er wurde 1947 oder 48 entlassen und lebte in Potsdam. Seine Frau hat er verzweifelt gesucht. Nach vielen Monaten schrieb ihm eine Königsberger Lehrerin, dass sie seine Frau nach mehreren Monaten Russenbesatzung tot und offensichtlich verhungert in einem Hausflur in Königsberg gefunden hatte. Sie hatte wohl Fabrikarbeit leisten müssen. Da hatte er nun Gewissheit, wenn auch eine Schreckliche. In Potsdam hatten sie ihn zum Regierungsdirektor in der Sparte Lehrerausbildung gemacht, schöne Arbeit, aber er war doch körperlich und seelisch so ramponiert von seinem leidvollen Schicksal, dass er bereits 1958 starb. Er hatte mich gefunden und besuchte mich öfter, manche andere frühere Schülerin auch. Nach Potsdam konnten wir ja nicht vom Westen aus.

Doch nun wieder zu mir. Ich verließ die Schule 1923. Meine Mutter war zu der Zeit schon sehr krank, sie starb im Sommer 1925. Das hatte natürlich großen, negativen Einfluss auf meine Berufswahl. Ich wollte zunächst Krankenschwester werden. Da rannte ich aber bei Mutter gegen eine Mauer: Aufgrund unserer ganz knappen wirtschaftlichen Lage und des baldigen Sterbens, das Mutter voraussah, war ihr klar, dass sie keine lange Ausbildung für mich, bei der ich voll von ihr hätte versorgt werden müssen, wählen könnte. Ich ging also als Lehrling – 2 1/2 Jahre Ausbildung – in die Darmstädter- und Nationalbank, wo ich gleich eine kleine Lehrvergütung bekam. Man höre aber und staune: Im ersten Jahre, also 1923, Inflationsjahr, bekam ich monatlich Tausende von Mark, bald Millionen, Milliarden bis Billionen. Im Dezember, als die neue Währung kam, waren es 19,35 Reichsmark pro Monat!!!
Im 2. Jahr waren es 50,- RM, im dritten etwa 75,-.
Zum 1. Oktober 25 wurde ich fest eingestellt, am 21. September war Mutter gerade gestorben. Nun stand ich mit ca. 110,- oder 120,- p.M. mutterseelenallein da, aber es ging. In der Bank war ich todunglücklich! Mich interessierte doch der ganze Kram nicht. Ob die Aktien so oder so standen, ob Herr Müller 5.000,- oder 500.000,- Mark Kredit bekam, war mir doch so schnuppe! Es gab auch damals noch keine Berufsfachschulen, wo ich etwa einen Gesamtüberblick über das Bankwesen hätte bekommen können. Es war trostlos! Wie oft hatte ich auf dem Klo gesessen und geheult. Dort hatte ich übrigens Frau Jahr, damals Hilde Herlitz, kennengelernt, die aber leider schon Ende 1923 als Nicht-Fachkraft abgebaut wurde. In den nächsten Jahren, als ich es bezahlen konnte, fing ich dann an, mein Englisch zu vervollkommnen, nahm Einzel-Unterricht, ging in einen englischen Club und fing an, englische Romane zu lesen. „Gone with the wind“, vom Winde verweht und die fünf Bände „Foresyte Saga“ habe ich im Original gelesen! D.h. ich suchte mich auf verschiedenen Gebieten günstig zu ernähren, nur nicht zu verkommen. Die Kameradschaft in der Bank von den Jungen war nett, und schließlich war die Bankfiliale noch der Ort, von dem aus ich in die Jugendbewegung kam durch eine etwas ältere Kollegin, die als einzige von uns Wandervogel war. Sie nahm mich zunächst mit in einen kleinen Kreis in Schmargendorf, der mich gleich sehr anzog, den ich jetzt aber nicht erst schildern will. Von dort aus kam ich in Beziehung zum Berliner Neuwerk-Kreis. Diese Gruppe war ein Teil des gesamten „Neuwerk-Kreises“, einer evangelischen Wandervogel-Vereinigung, die am stärksten im Südwesten des damals ungeteilten Deutschen Reiches verbreitet war. Ihr Ziel und Idealismus war es, die der Kirche bzw. dem Christentum in den letzten Jahrzehnten entfremdete Arbeiterschaft zurückzugewinnen, das – rückblickend – ja nicht erreicht wurde. Unsere Berliner Gruppe wurde von einem ev. Pfarrer, der an einer Moabiter Kirche ordiniert war, geleitet. Wir waren einmal in der Woche zusammen, ca. 25 Personen, etwa im Alter von 18-30 Jahren, alles Wandervögel.
Unsere Jungen waren überwiegend Studenten – Theologen, Germanisten, Psychologen – kaum Techniker. Unter den Mädchen waren weniger Studentinnen, hauptsächlich Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Fürsorgerinnen, Kunstgewerberinnen etc. und wenige kaufmännische Angestellte. Wir hatten alle 14 Tage biblische Themen – unser Pfarrer Günter Dehm war ein ausgezeichneter lebendiger Theologe, später Uni-Professor in Bonn, und wir alles fragende, kritisierende, auf Lebens- und Glaubensfragen ausgerichtete Jugendliche. Der Kreis war jugendbewegt, theologisch und mit einem Hauch von Sozialismus ausgerichtet. An den übrigen 14 Tagen beschäftigten wir uns mit den damals aktuellen Dingen wie z.B. Psychoanalyse, Zionismus, sozialpolitische Fragen und natürlich mit Literatur, übrigens auch mit Philosophie, wie mit Jaspers und Heidegger. Letzterer war mir damals zu schwierig. Jaspers besagte mit viel. Wenn nötig, wurde zunächst ein Fachmann herangeholt zur Einführung, und wir arbeiteten dann selbst weiter.
Untereinander standen wir und recht nahe. An den Wochenenden wurde gewandert, gesungen und problematisiert. Einmal waren wir 14 Tage zusammen in Gral-Müritz an der mecklenburgischen Küste, 1927. Günter hatte für uns ein Pensionshaus gemietet, wo wir in Doppelzimmern wohnten, immer je zwei Mädchen und zwei Jungen, und einem schönen Aufenthaltsraum für alle hatten. Die romantischere Zeit mit Schlafen in Zelten und Abkochen habe ich nicht mehr miterlebt. Die Jugendbewegung war zu meiner Zeit schon leise im Abklingen. Es waren herrliche zwei Wochen, in denen ich mich übrigens auch verlobt hatte. Eine blödsinnige Wahl – wir passten überhaupt nicht zueinander, nach rund einem Jahr gingen wir wieder auseinander.
Dieser Kreis, in dem ich mit unvorstellbarer Begeisterung war, hat für mich meine Lebensausrichtung geprägt. Ich war übrigens auch trotz meiner etwas mickrigen Existenz ohne Abitur und ohne einen anständigen – oder sagen wir interessanten – Beruf sehr selbstverständlich und herzlich aufgenommen worden. Dort lernte ich übrigens den Fürsorgerinnen-Beruf, der ja auch ziemlich neu war, kennen. Er imponierte mir außerordentlich und ich überlegte sehr und versuchte, mich irgendwie ohne Ausbildung in ihn hinein zu mogeln, aber das war unmöglich, die Ausbildung war lang und anspruchsvoll.

Der 2. Weltkrieg trieb uns dann auseinander. Die Jungen, die je nach Beendigung ihres Studiums sowieso nach einer Zeitspanne Berlin verlassen hatten und durch neue, jüngere laufend ersetzt wurden, wurden nun auch noch eingezogen, und wir alle standen bald laufend in Bombengefahr. Ich verlor meine mütterliche Wohnung 1943 und die Notbleibe dann nochmals 1945. Nach der 2. Ausbombung nahm mich der Vater einer jüngeren Freundin, der allein von seiner Familie in seiner 5-Zi.-Wohnung mit einem Dienstmädchen zurückgeblieben war. Seine Frau war verstorben, seine zwei Söhne im Feld und seine Tochter, meine Freundin, war auswärts als Dozentin einer Lehrerinnen-Bildungsanstalt. Er selbst fiel ganz zu Ende des Krieges im Volkssturm. Dann war ich kurze Zeit ganz allein in der großen Wohnung und wurde in der Russenzeit fünfmal vergewaltigt – mit Ansteckung.
Anfang Mai kam meine Freundin dann zurück, ohne alles, mit durchgelaufenen Füßen, die Schuhe in der Hand. Sie fiel mir weinend in die Arme mit der Frage: „Wo ist Vati?“
Sie fand, als sich alles notdürftig normalisierte, Arbeit als Lehrerin, hielt die große Wohnung durch vermieten, heiratete 1954, hat süße Töchter, die jetzt auch verheiratet sind und Kinder haben. Ich wohnte dort bis 1960, als ich mir eine Eigentumswohnung, 2 Zimmer, in Wilmersdorf kaufte. In dieser Familie, deren Entstehung ich miterlebte, bin ich vollkommen verwurzelt. Mit dem Mann meiner Freundin verstand ich mich bestens. Er ist vor 1 1/2 Jahren bei einem fürchterlichen Verkehrsunglück ums Leben gekommen.

Doch zurück zu 1945. Als Bankangestellte stand ich ja nun völlig im Freien. Die Banken in Berlin hatten ja sehr viel länger geschlossen, als die in der späteren Bundesrepublik. Ich war im Mai einmal zu Fuß – zwei Stunden lang – durch das grausig zerstörte Berlin in restlichen Teile der Ruine der Dresdner Bankzentrale gegangen und traf dort einen Rest des früheren Personalbüros an. Natürlich konnte niemand uns etwas Verbindliches sagen. Wir bekamen nur eine Bescheinigung, dass wir auf unbestimmte Zeit gehaltlos beurlaubt wurden. Was nun? Die großen Firmen und Betriebe waren ja alle zerstört oder stillgelegt im Laufe des Krieges und kamen ganz, ganz langsam wieder, die meisten erst nach der Währungsreform, also drei Jahre nach dem Krieg. Und dann kam noch hinzu, ich war ja nur im Bankfach ausgebildet. Zum Glück hatte ich während meiner Lehrzeit Maschineschreiben und Stenographie gelernt, verlangt wurde das nicht in der Bank. Und im tiefsten Grunde wollte ich ja auch gern ganz aus dem kaufmännischen Bereich heraus. Sehr bald fiel mir die Kirche ein. Ich ging zu einem der Dahlemer Pfarrer in Wohnnähe, und siehe da, der brauchte gerade eine Gemeindehelferin. Die brauchten ja normalerweise auch eine Ausbildung, aber dieser Pfarrer merkte im laufenden Gespräch, dass ich im kirchlichen Leben ziemlich zuhause war und stellte mich ein. Das Gehalt, das er mit nach Verständigung mit seinem Vorgesetzten bot, entsprach meinem bisherigen Gehalt bei der Bank. Also fing ich sehr bald an, froh und etwas ängstlich. Ich hatte da vormittags Büroarbeiten, auch allerlei Publikumsverkehr mit Gemeindegliedern, die z.B. Amtshandlungen anmelden wie Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Auskünfte wollten und um Hilfe aller Art baten, für die natürlich der Pfarrer selbst zuständig war. Es gab auch einige Kassen zu führen, die sonntäglichen Kollekten zu verbuchen und weiterzuleiten etc. Also Büroarbeiten, die mir sehr viel mehr Spaß machten, als die in der Bank. Nachmittags machte ich dann Gemeindebesuche, ein weites Feld in dieser Notzeit, in der überall gelitten, gehungert und gestorben wurde. Auch zwei Altersheime lagen in unserer Gemeinde, in denen ich bald auch kleine Andachten hielt. Das war nun eine Aufgabe, die außer guter Vorarbeit innere Bereitschaft, Einfühlungsvermögen und seelsorgerischen Takt erforderte und die niemand, ob ausgebildet oder nicht, so nebenher hinlegte. Ohne meine Existenz im Neuwerk-Kreis hätte ich das nicht gekonnt.
Und nun kommt der Clou. Eines Tages sagte mir der Pfarrer, ich sollte doch mal zu einer Frau Friese, eine Sechzigerin, die noch niemand nach 1945 wieder in der Gemeinde gesehen hätte und die vorher sehr rege am Gemeindeleben teilgenommen hätte. Ich traf auf eine sehr lebhafte, liebenswürdige Dame, die sich herzlich freute, dass jemand aus der Gemeinde nach ihr sah und versprach auch, zu kommen. Wir kamen in ein langes, gutes Gespräch. Sie seien eine Juristenfamilie. Ihr verstorbener Mann sei Rechtsanwalt gewesen, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn, die zwei Kinder hätten, seien ebenfalls Juristen. Das große Leid sei, dass ihr Schwiegersohn vor wenigen Wochen von den Russen abgeholt worden und dem Vernehmen nach nach Sibirien verschleppt worden sei. Er war wohl Nazi, ich fragte nicht. Es sei, diese Worte habe ich behalten, „eine so maßlos glückliche Ehe“ gewesen. Sie, die Tochter, habe erfreulicher Weise Arbeit gefunden, eben als Juristin, die große Ansprüche an sie stelle, ihr aber auch helfe, ihr Schicksal zu tragen.
Sie kamen bald abends mal zur Bibelstunde, wir sahen uns an, die Tochter und ich, und schrien: „Käthe!“ – „Gerda!“ Sie war eine Mitschülerin von mir, sprang nach der 4. Klasse allerdings ab und besuchte die Studienanstalt, um das Abitur zu machen. Nach meinem Schulabgang von der 10. Klasse hatten wir uns dann nicht mehr gesehen. Nun – nach der Veranstaltung – plauderten wir noch eine Weile zusammen. Sie erzählte, dass sie Dozentin an der Frauenschule Alice Salomon, der staatlichen, sei und dort Rechtskunde in allen Varianten unterrichtete. Ich erzählte ihr von meiner Situation und schließlich platzte sie heraus: „Hast du nicht Lust, Fürsorgerin zu werden?“ Ich muss wohl sehr blöd geguckt haben, jedenfalls fassungslos. Sie erklärte mir, dass Fürsorgerinnen dringend gebraucht würden, also Mangelware seien. Einzige Voraussetzung für die Aufnahme zur Ausbildung seien Mittlere Reife und eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Unterricht erfolgte abends, tagsüber wurde man gleich in die praktische Arbeit geschleust, sozusagen als Lehrling in einem Bezirksamt, Familienfürsorge.
Sie versprach mir, mich bei der Direktorin Frau Dr. Runkel anzumelden, und ich ging wie in einem Taumel nach Haus und besprach alles mit meiner Freundin. Das Gespräch bei Frau Dr. Runkel verlief sehr positiv. Es imponierte ihr, dass ich diesen Beruf wirklich mit heißem Herzen ersehnt hatte. Im November begann ein neuer Lehrgang – es war Spätsommer, als ich dort war. Ich kündigte in meiner Dienststelle, erledigte die wenigen Formalitäten und erfuhr, dass ich in die Fafü Steglitz kommen würde. Finanziell war ich gesichert, weil ich gleich Gehalt bekam, im ersten Halbjahr allerdings nach Gruppe 9 der Angestellten-Besoldung, aber das machte insofern nichts, da wir im Jahre 1947 ja noch in der ersten Nachkriegszeit waren und außer den kümmerlichen paar Lebensmitteln auf unsere Karten nichts zu kaufen bekamen. Das ging erst Mitte 1848 los, und da war ich dann immerhin in Gruppe 8. Die Ausbildungszeit war hochinteressantes Neuland für mich, aber hart, ganz hart. In der Frauenschule ging mir alles glatt ein: unsere Fächer waren Jugendwohlfahrt, Rechtskunde, also Familienrecht, Jugendrecht, Jugendstraffreiheit, Staatsrecht, Pädagogik, Psychologie und Sozialmedizin. Die Dozenten waren überwiegend ausgezeichnet klar und lebendig, wir schrieben dann und wann Klassenarbeiten und zu Haus hatten wir Gesetze zu pauken und Referate auszuarbeiten.
Nach 2 1/2 Jahren schloss unsere Frauenschulzeit mit einer Prüfung ab, die ich mit gut machte, und die Zeit als Hilfsfürsorgerin im Amt endete. Wir wurden „anerkannt“ und als Fürsorgerinnen in der Gehaltsgruppe 7, später 6, eingestellt. Ich blieb ca. zehn Jahre in der Fafü Steglitz und ging dann in das Landesjugendamt in die Sparte Heimerziehung. Mein großer Wunsch nach Arbeit, die mich als Menschen, als Frau geistig und von der mütterlichen Seite her forderte und mich erfüllt, war tatsächlich noch erfüllt worden. Inzwischen waren die fünfziger und sechziger Jahre vorübergegangen und hatten für uns alle und jeden Einzelnen manche Wende gebracht. Ich war 1960 in eine eigene Wohnung, eine schöne 2-Zi.-Eigentums-Wohnung gezogen, die Freundschaft mit Schulz und ihrer Familie festigte sich immer mehr, Günter Dehm, der Mittelpunkt unseres Neuwerk-Kreises, hatte in der Zeit des Kirchenkampfes in der Nazizeit 1 1/4 Jahre im Gefängnis gesessen, die Familie verlor ihre Wohnung durch Bomben und einer seiner drei Söhne blieb in Russland verschollen. Er selbst wurde 1948 Universitäts-Professor für praktische Theologie in Bonn. Als er 1970 mit 88 Jahren, fast erblindet, seine Frau verlor, ging ich, leider nur für zwei Monate, nach Bonn und betreute ihn in seiner Wohnung bis zu seinem Tode. Unser Kreis war in der Kriegs- und Nachkriegszeit langsam zerbröselt. Wir in Berlin Verbliebenen hatten Kontakt bis Einer nach dem Anderen verstarb. Ich als die Jüngste bin die letzte Übriggebliebene.

Käthe T.

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