Rom

1 180 km. Zwei Hauptstädte

Rom ist die Hauptstadt von Italien. Aber auf römischem Gebiet liegt umgeben von einer Mauer ein anderer Staat, der zugleich seine eigene Hauptstadt ist und, selbst wenn man es völkerrechtlich nicht wahrhaben will, von Menschen in einem viel größeren Gebiet als heimliche Hauptstadt gefühlt wird. Also genau, wie es in Berlin einmal war.

Eine Städtepartnerschaft zwischen West-Berlin und dem Vatikan hätte auf der Hand gelegen: „Wir wollen beide so viel mehr, aber wir sind eingemauert – wie gehen wir damit um?“ Oder eine Städtepartnerschaft zwischen der Hauptstadt der DDR und der von Italien: „Der eingemauerte Fremdkörper stiehlt uns immer wieder die Schau; ständig werden dort die Großen der Welt empfangen.“

Aber die Beziehungen zwischen Rom und Berlin waren schon immer eher kühl, sogar unter Mussolini und Hitler. Auch Woytiła (der immerhin aus dem nahegelegenen Polen kam) und Berlusconi haben daran wenig ändern können.

Man kann es an den Botschaftsgebäuden ablesen. Die verraten ja immer viel darüber, wie Länder sich sehen und gesehen werden wollen. Die amerikanische Botschaft zum Beispiel steht an der berühmtesten Stelle Berlins, direkt neben dem Brandenburger Tor, nahe bei Reichstag und Bundeskanzleramt, geht nahtlos in eine Bank über und zeigt oben drauf ungeniert ihre Abhörantennen. Oder die nordischen Botschaften, die überzeugend ausstrahlen: „Wir, Island, Finnland und die skandinavischen Länder, gehören zusammen, sind aber doch verschieden. Wir sind zugleich bescheiden und stolz auf unser Land, und wir können was, zum Beispiel einen mehrere Stockwerke hohen Steinblock aus Norwegen nach Berlin schaffen, einfach nur, weil wir das schön finden.“

Wie ist es also botschaftsmäßig mit Rom?

Die italienische wurde von Mussolini für Hitler gebaut, riesig und kalt. Sie hat in der Zeit der Teilung Deutschlands exterritorial dahingedämmert, ist nun wieder in Gebrauch, aber der Medienzar Berlusconi hat nicht versucht, ihr einen Facelift zu verpassen. Sie strahlt immer noch aus: „Ich bin von Mussolini für Hitler.“

Die Apostolische Nuntiatur, also die Botschaft des Vatikanstaates, liegt in der Nähe des Südsterns, am Eingang zum Volkspark Hasenheide. Man kann sich genau vorstellen, wie ein Monsignore mit dem Architekten verhandelt haben muss:

„Hier ist die Liste der nötigen Räume, inklusive Hauskapelle, Gästezimmer und Weinkeller. Wie viele Betten, Badewannen, Schreibtische, Sitzgruppen und Altäre nötig sind, steht jeweils dabei.“

„Ja, das ist alles deutlich. Fluchtwege, Brandschutz und so können Sie mir überlassen. Gibt es sonst noch bestimmte Auflagen und Dinge, die Sie gerne berücksichtigt hätten?“

„Die Berliner sind anarchistisch, ungläubig, unkirchlich, höchstens auf Papier protestantisch und verachten alles Katholische. Oder sie sind Moslems, die uns übelnehmen, dass wir uns mit Israel immer besser verstehen. Denen kann man allesamt nicht trauen. Die Sicherheit unseres Nuntius‘ darf keineswegs gefährdet sein. Die werden vor der Nuntiatur bestimmt für alles demonstrieren, was Gott verboten hat, Brandsätze und Steine werfen und jede erreichbare Wand beschmieren. Wer weiß, sie scheuen vielleicht auch nicht vor Entführungen zurück.“

„Verstanden, Monsignore. Sicherheit wird groß geschrieben. Soll der Bau auch noch etwas ausstrahlen?“

„Ausstrahlen? Die ganze Sicherheit wird schon teuer genug.“

Schauen Sie sich den Betonbau mit seinen Sehschlitzen selbst an! Das Einzige, das ihn von einem etwas schickerem Gefängnis unterscheidet, ist das päpstliche Wappen an der Tür. Er strahlt weder etwas Spirituelles noch etwas Katholisches noch etwas Historisches oder auch nur Eleganz aus. Wie er sich von innen anfühlt, kann ich nicht sagen. Ratzinger dagegen hat, als er noch Papst war, dort übernachtet, was ja auch einer der Zwecke des Gebäudes ist. Am Tag darauf sprach er vor dem Deutschen Bundestag folgenden Satz:

Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen.

Ob das schon in Rom geschrieben wurde oder hier an der Hasenheide, ist unbekannt.

Wo die katholische Kirche streng verboten ist, blüht sie im Untergrund. Wer aber erfahren will, wie eine Welt ganz ohne Rom aussähe, ohne dass die katholische Kirche verboten wäre, sollte eine Zeitlang in Berlin leben. Da bekommt man einen Eindruck.

Wenn ich nachdenke, welche Linien abgesehen von dieser Negativlinie deutlich von der Doppelhauptstadt Rom nach Berlin führen, fallen mir nur die beiden Botschaftsgebäude ein und Ramona Azzaro mit ihrem Restaurant in der Mommsenstraße. Es heißt Marjellchen. Und das kam so:

In der unruhigen Zeit vor dem ersten Weltkrieg kam ein italienischer Maurer aus Udine nach Berlin, um dort sein Glück zu machen. In seiner Heimat vermischen sich das romanische Sprachgebiet mit dem slawischen und dem deutschen. Ihn aber zog es in die Hauptstadt des deutschen Reiches, die zugleich Hauptstadt von Preußen war.

Albino Barbarino fand dort Arbeit und lernte beim Tanzen seine Frau kennen. Die stammte aus, ja, wie soll man das heute nennen? Westpreußen? Ostpreußen? Polen war es damals nicht. Jedenfalls aus einer Gegend, wo sich das deutsche mit dem slawischen Sprachgebiet vermischt und wo hinter der Ostsee Skandinavisch und Finnisch gesprochen wird. Geographisch ist es so: Berlin lag damals mitten in Preußen. Im Westen erstreckte Preußen sich bis ins Rheinland. Östlich von Berlin begann irgendwann nach vierhundert Kilometern Westpreußen, nun polnisch, und dahinter Ostpreußen, nun aufgeteilt zwischen Russland, Polen und Litauen. Dass der Westen im Osten liegt, kam im Kleinen vorübergehend auch in Staaken vor. Wir werden darauf zurückkommen.

Die junge Frau aus Elbing, von Berlin aus hinter Danzig gelegen, noch in Westpreußen aber kurz vor Ostpreußen, hatte dort als Dienstmädchen gearbeitet, war glücklich und hat immer nur gut vom preußischen Adel geredet. Auf hartherzige neureiche Bürger war sie dagegen nicht gut zu sprechen. Als sie schwanger wurde, ohne verheiratet zu sein, musste sie nach Berlin, wo ledige Mädchen entbinden konnten. Der Sohn wurde weggegeben. So war das damals.

Dort fand sie also beim Tanzen ihren Mann. Das junge Paar hatte einen italienischen Familiennamen, kam aber aus dem nordöstlichsten und südöstlichsten Rand des deutschen Sprachgebietes und bekam in Berlin zwei Kinder.

Die Tochter – sie hieß Maria – heiratete dann einen weiteren Italiener, Giuseppe – also Joseph – Azzaro, der aus Tripoli nach Berlin gekommen war, um im Hotel Eden – Paradies – sein Glück zu machen. In Apulien, wo er geboren wurde, wurde hinter der See Albanisch und Griechisch gesprochen, in Tripoli, wo er gearbeitet hatte, Arabisch. Damit war auch der südöstlichste Rand des romanischen Sprachgebietes in der Familie vertreten.

1944, die Wohnung an der Wassertorstraße war bombardiert, wurde Mutter Maria ohne Mann und Kinder zur Erholung nach Ostpreußen verschickt. Dort war es noch relativ ruhig, dort hat sie das unzerstörte Königsberg kennengelernt. Bald sollte sie es brennen sehen.

In der schweren Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ging die junge Familie mit drei Kindern aus dem zerstörten Berlin nach Rom. Der Jüngste hatte schreckliche Darmprobleme, und in Rom sollte es Bananen geben. Dort wurde eine weitere Tochter geboren.

Aber die Familie, obgleich zu drei Vierteln italienisch, konnte in Rom nicht wurzeln und kehrte, als dieses Kind fünfzehn Monate alt war, enttäuscht nach Berlin zurück. Mutter Maria dachte immer an den Mann, der sie in Ostpreußen im Eisenbahnabteil so lieb angelächelt hatte. Wiedergesehen hatte sie ihn nie.

Dennoch ging Ramona als junge Frau mit einem weiteren Italiener, diesmal aus der Nähe von Laibach, nach Italien, um dort ihr Glück zu machen – und kehrte zwei Jahre später enttäuscht zurück. Jedenfalls hatte sie nun Italienisch gelernt.

Und als Ramona Azzaro 36 Jahre alt war, eröffnete sie in Berlin ihr Restaurant Marjellchen. Ein ostpreußisches Restaurant mit Gerichten, von denen ihre Oma immer erzählt hatte – das war schon so lange ihr Herzenswunsch, das sieht sie heute, nach dreißig erfolgreichen Jahren, als ihr Lebenswerk. Die Bilder an der Wand, die Speisekarte, Ramonas Erzählungen: alles dreht sich um Ostpreußen und ihre Großmutter. Ramonas zu drei Vierteln italienisches Blut, ihr Name, ihre Geburt in Rom, ihre Jahre in Italien – all das kam nicht an gegen ihre Liebe zu Ostpreußen, das damals schon lange verloren war.

Es gibt in Berlin Hunderte italienische Restaurants, aber nur ein ostpreußisches, und das wird von einer Römerin betrieben. Dort kellnert übrigens „dat Elke“ aus der Nähe von Aachen, vom westlichsten Rand des deutschen Sprachgebietes, wo es sich mit dem niederländischen und ein paar Kilometer weiter südlich mit dem romanischen vermischt.

Dort begann die Reichsstraße 1, die über Berlin nach Königsberg führte, der Hauptstadt Ostpreußens. Um Berlin zu verstehen, muss man Ostpreußen verstehen, nicht Rom, die Stadt, die Berlin nur scheinbar ähnelt. Aber so nah sind wir unserem Ziel noch nicht.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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