Zwei Jahre in Südamerika

71 Jahre nachdem sie geschrieben wurde, ist am Wochenende erstmals die Erzählung „Zwei Jahre in Südamerika“ als Website erschienen. Es ist die Erinnerung des halbjüdischen Jungen Werner Reissner, der mit seinem Bruder Günther und seinem jüdischen Vater vor dem aufkommenden Nationalsozialismus Deutschland verlassen musste.

Sein Vater war mit einer Nichtjüdin verheiratet, hat sich scheiden lassen, um in Südamerika mit seiner zweiten Frau und einem weiteren Kind aus dieser Ehe, ein neues Leben zu beginnen.
Zum Zeitpunkt der Ausreise oder Flucht waren die Jungen 11 und 12 Jahre alt.
Die leibliche Mutter der beiden hat erst von der Ausreise erfahren, als die Kinder schon in Südamerika angekommen waren, da der Vater jeglichen Kontakt mit seiner ersten Frau verboten hatte.

Werners Schilderung des neuen Anfangs in einer fremden Welt, ohne Sprachkenntnisse, weitab von der vertrauten Umgebung sind ein Zeugnis darüber, welche Schwierigkeiten in der neuen Umgebung zu bewältigen waren und wie Werner und sein Bruder Günther dies gemeistert haben. Er erzählt anschaulich, wie er immer an sein Ziel, wieder in die Heimat zurückzukommen, geglaubt hat.

Während sein Bruder Günther sich mit der Situation arrangiert hatte, und wenig Elan zeigte, war Werner die treibende Kraft, alles zu unternehmen um seinem Ziel näher zu kommen. Er war auch das Bindeglied zu ihrer Mutter in Deutschland und berichtete in seinen Briefen von den Schwierigkeiten und dem dringenden Wunsch, wieder nach Hause zu wollen.
Zwischenzeitlich hatte die Mutter einen verwitweten Zimmermann geheiratet, der einen Sohn mitgebracht hat und somit deren finanzielle Möglichkeiten recht beschränkt waren. Umso größer ist die Leistung anzuerkennen, wie auch in der Erzählung berichtet wird, die Rückführung der beiden Kinder zu bewerkstelligen.

Nach der glücklichen Heimkehr der Kinder im Jahr 1938 begann wieder der Ernst des Lebens in Deutschland.
Sie mussten sich erneut an einen Schulbetrieb gewöhnen, den sie auf Ihrem „Ausflug“ nach Südamerika sicherlich nicht vermisst hatten und dann eine Lehre als Schlosser (Günther) und als Koch (Werner) aufnehmen.
Während Werner sich gut integriert hatte, war Günther seinem Abenteuertrieb erlegen und ging nach dem Lehrabschluss auf Entdeckungsreise in Deutschland.
Das herrschende System hatte aber dafür wenig Verständnis, dass ein 20-jähriger Halbjude sich außerhalb der Norm des „Großdeutschen Reichs“ stellte und keiner geregelten Arbeit nachging. Er wurde mehrfach festgenommen und landete letztlich im Konzentrationslager Groß Rosen.
Aufgrund seiner Schlosserkenntnisse wurde er in verschiedene Lager verlegt und landete zuletzt im KZ Dachau.

Obwohl die Amerikaner Bayern schon im April befreit hatten, war Günther von der Lagerhaft und den Bedingungen so geschwächt, dass er verstarb und am 15. Mai 1945 in Wolfratshausen mit 55 anderen ehemaligen Häftlingen in einem Massengrab beerdigt wurde. Später wurde er exhumiert und in die Gedenkstätte Dachau überführt.

Werner dagegen arbeitete als Jungkoch im Schlosshotel Herrenchiemsee und landete nach Verrat seiner jüdischen Herkunft in einem Lager in Ungarn. Von dort konnte er fliehen und traf nach einem langen und nicht risikolosen Fußmarsch bei seiner Mutter in Leipzig ein.
Da Leipzig zuerst von den Amerikanern befreit wurde, hatte er wieder großes Glück und wurde bei seiner Rückkehr nicht behelligt.

Seine schlechten Erfahrungen mit dem Kommunismus – zwischenzeitlich waren die Amerikaner aus Leipzig abgezogen und die sowjetische Militärmacht hatte das Kommando übernommen – veranlassten ihn, in den amerikanischen Sektor von Berlin überzusiedeln und dort bei den Amerikanern als Koch zu arbeiten. Da er von seiner Mutter die Geschäftstüchtigkeit geerbt hatte, betätigte er sich nebenbei auf dem Schwarzmarkt, was seinem Arbeitgeber missfiel und er kurzerhand seinen Job verlor.

Mit allerlei Gelegenheitsjobs bestritt er dann seinen Lebensunterhalt, lernte seine zukünftige Frau kennen und beide beschlossen, Deutschland zu verlassen und in Amerika ihr Glück zu suchen.
Leider hatte zu der Zeit der „Kommunistenhasser“ McCarthy darüber zu befinden, wer in Amerika Fuß fassen durfte und wer nicht. Werners Frau, die im damaligen sowjetischen Sektor in Berlin gearbeitet hatte, war somit auch Mitglied der Gewerkschaft, wie das allgemein dort üblich war. Also in einer „kommunistischen Organisation“. Damit hatte sie aber die Möglichkeit verspielt, ein neues Leben in Amerika zu beginnen.
Es bot sich jedoch die Gelegenheit in Kanada einen Neustart zu versuchen und so reisten beide per Schiff nach Kanada und schafften mit Fleiß und Glück einen gewissen Wohlstand.

Seine Heimat hat er aber nie vergessen und hat mich, seinen Halbbruder, oft besucht und auch an seinem Wohlstand teilhaben lassen.
Es war mir sogar vergönnt, seinen 60. Geburtstag in Kanada mitzufeiern, obwohl das für einen DDR-Bürger nicht so einfach war. Es gab zwar die Möglichkeit, bei bestimmten Anlässen ins „kapitalistische Ausland“ zu reisen, aber es gab keine Regeln, auf die man sich berufen konnte. Man war von der Lust und Laune der jeweiligen Bearbeiter abhängig.

Nachdem sein Sohn dann im Jahre 1986 geheiratet hatte, sollte er sich nicht mehr lange seines Daseins erfreuen und starb leider viel zu früh im Alter von 63 Jahren an Herzversagen.

Peter Schumann
Halbbruder des Autors

Website „Zwei Jahre in Südamerika“
www.zwei-jahre.de

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