Tiergarten Kleve

500 km. Vom Jagd­ge­biet zum Land­schafts­park

Die Linie, die vom Haag über Berlin nach Ostpreu­ßen läuft, ist in Kleve beson­ders greif­bar. Das schläf­rige Städt­chen, seit Jahr­hun­der­ten preu­ßisch, läge prak­tisch so gut wie in den Nieder­lan­den, wenn da nicht noch Kranen­burg dazwi­schen wäre. In Kleve kann man heut­zu­tage billi­ger wohnen und billi­ger Alko­hol kaufen als in den Nieder­lan­den; außer­dem gibt es in der Fußgän­ger­zone nicht diese lang­wei­li­gen Ketten­lä­den, die sich in jeder nieder­län­di­schen Stadt nur durch ihre Reihen­folge unter­schei­den, sondern noch etli­che Geschäfte in Fami­li­en­be­sitz und vor allem Bäcker, die Kuchen und Torten backen, wie man sie in den Nieder­lan­den nicht kennt, aber schätzt, und die sich bisher jeder Schnei­de­ma­schine wider­set­zen. Im Zentrum von Kleve und in den Super­märk­ten hört man mehr Nieder­län­disch als Deutsch.

Berlin ist weit, darum hatte der Große Kurfürst hier seinen Jugend­freund Moritz von Nassau als Statt­hal­ter ange­stellt. Der war reich, unver­hei­ra­tet und hatte Geschmack und viel Zeit. Er beschäf­tigte sich mit Land­schafts­ar­chi­tek­tur. Sicht­ach­sen waren ihm dabei beson­ders wich­tig. Es herrschte ja Aufklä­rung. Da will man nicht in Kirchen Heili­gen­bil­der anschauen, sondern in der Welt sehen, wie alles zusam­men­hängt.

In Kleve gab und gibt es wie in Berlin einen Tier­gar­ten, und hier wie dort wird der von Touris­ten dauernd mit dem rein zufäl­lig dane­ben liegen­den Zoo verwech­selt. Ein Tier­gar­ten war damals ein für die Jagd einge­rich­te­tes Wald­ge­biet, nicht zu weit weg vom Schloss, wo man die Beute verspei­sen wollte.

In ordent­li­chen Wäldern, sicher in preu­ßi­schen, gibt es lange, gerade Schnei­sen. Die dienen der Forst­wirt­schaft, beugen der Ausbrei­tung von Wald­brän­den vor und eignen sich prima für Hetz­jag­den mit Reitern und Hunde­meu­ten. Diese Form der Jagd war damals sehr beliebt, ist heute aber verbo­ten. Man darf zwan­zig­tau­send Schweine oder Hühner in einer Halle auf engs­tem Raum halten und am Fließ­band schlach­ten, aber keinen Hirsch mit Pfer­den und Hunden hetzen, bis er so müde ist, dass der Ober­jä­ger ihn mit einem Hirsch­fän­ger erste­chen kann. Wir sind eben zivi­li­sier­ter als die damals.

Zwischen Kranen­burg und Kleve liegt der Reichs­wald. Die Schnei­sen teilen ihn in gleich große Recht­ecke. Dort verläuft man sich leicht. Man erkennt am Sonnen­stand die Haupt­rich­tung, aber meis­tens sucht man sein Auto zwei oder drei Schnei­sen neben der, an deren Ende es steht, und kommt Stun­den später in einem unbe­kann­ten Dorf an.

Dort, wo Fürs­ten jagten, hat man darum die Schnei­sen nicht recht­wink­lig, sondern stern­för­mig ange­legt. Wenn man auch nur eini­ger­ma­ßen die Haupt­rich­tung weiß, erreicht man sicher das Zentrum des Sterns. Von diesem Zentrum aus hat man alles unter Kontrolle, weil man sieht, wo die Reiter gerade sind. Wer einmal einen Blick dafür hat, findet in vielen Wäldern solche Jagd­sterne. Auf Land­kar­ten kann man oft ihre Reste entde­cken. In Berlin und Umge­gend nennt man die Schnei­sen Gestelle. Wenn also eine Straße Adler­ge­stell heißt, war das bestimmt einmal eine Wald­schneise. Es kann gut sein, dass sie einmal Teil eines Sterns war.

Auch im Tier­gar­ten in Kleve hatte Moritz so einen Stern, aber einen mit Pfiff: jede Schneise gab den Blick frei auf einen beson­de­ren Punkt: die Burg im Zentrum der Stadt, die Kirche von Hoch­el­ten auf der ande­ren Seite des Rheins und so weiter. Moritz war so begeis­tert von diesen Aussich­ten, dass er im Zentrum des Sterns einen Hügel aufschüt­ten ließ, von dem man noch besser sehen konnte. Für die Jagd war der weni­ger prak­tisch. Und wenn am Ende einer Schneise nun wirk­lich nichts zu sehen war, kam da das Zentrum eines weite­ren Sterns hin.

Weil es so schön war, legte er in der nahen Umge­bung von Kleve mehrere Sterne in die Land­schaft. Aber auch, wo kein Stern hinpasste, gibt es Schnei­sen und sogar einen Kanal, der schnur­ge­rade von einem Aussichts­tem­pel zum Kirch­turm von Hoch­el­ten hinten am Hori­zont führt. Jeden­falls ist das die Idee. Ein Kanal bis zum Hori­zont, nur wegen der Aussicht, wäre für einen Hollän­der denn doch zu teuer gewor­den. Der Kanal hört vorher irgendwo auf. Auf zeit­ge­nös­si­schen Gemäl­den nebenan im Museum reicht er aber freund­li­cher­weise doch bis zum Flucht­punkt.

Anschei­nend waren in der Zeit von Moritz diese Land­schafts­an­la­gen so berühmt, dass sie sogar in italie­ni­schen Büchern über Garten­ar­chi­tek­tur beschrie­ben wurden. Moritz ließ zudem zwei sehr lange, ganz gerade Stra­ßen mit tausen­den von Linden­bäu­men bepflan­zen. Als sein Freund, der Große Kurfürst, in Kleve zu Besuch war, war er so beein­druckt, dass er sowas auch wollte. So entstand der Große Stern im Berli­ner Tier­gar­ten. Darum gibt es Unter den Linden.

Berlin müsste eigent­lich Neukleve heißen.

Aber in Kleve hatte Moritz etwas, dass es in ganz Berlin nicht gibt: ein Schein­grab. Eine eindrucks­volle Anlage in der Land­schaft, eine mit anti­ken Vasen geschmückte Rund­mauer, in deren Mitte ein Sarko­phag steht. Da konnte man gut mit seinen Freun­den verwei­len. „Hier werde ich einmal liegen.“ Als es so weit war, ließ er sich dann aber doch bei seinen Verwand­ten in Siegen beiset­zen. Es war nur ein Grab fürs Leben.

Dieses Moritz­grab steht aber immer noch. Napo­leon war davon so beein­druckt, dass er sich dort auch noch verewigt hat. Die leeren Sarko­phage im Berli­ner Dom und die zwei­hun­dert Jahre lang leere Gruft Fried­richs in Sans­souci wirken dage­gen eher undurch­dacht.

In Kleve werfen wir wieder einen Blick in die Zeitung.

Die Pfälzische Sprachinsel am Niederrhein

495 km. Vier­und­drei­ßig Eichen aus Dank­bar­keit

Flüchtlinge erhalten eigenes Dorf

Sie wurden verfolgt wegen ihres Glau­bens, obwohl sie fast den selben Glau­ben hatten, wie ihre Verfol­ger. Sie lebten ihn nur anders, und das heilige Buch war ihnen wich­ti­ger als aller­lei merk­wür­dige Ansich­ten und Gewohn­hei­ten, die sich im Laufe der Jahr­hun­derte verfes­tigt hatten.
Sie waren flei­ßig und geschäft­lich erfolg­reich. Viel­leicht mochte man sie auch deshalb nicht leiden. Jeden­falls waren sie ihres Lebens nicht sicher, und sie hatten zu Hause alles im Stich lassen müssen. Sie woll­ten über das große Meer in das moderne Land, in dem, wie man gehört hatte, es jedem gut ging.
Aber zuerst muss­ten sie sich durch mehrere Länder hindurch­schla­gen, und nirgendwo waren sie gern gese­hen. Die Einwoh­ner hatten Angst, dass die Flücht­linge für immer hier blei­ben würden.
Das Land mit dem Hafen, in dem die Über­fahrt begin­nen sollte, hatte seine Grenze dicht gemacht und ließ sie gar nicht erst herein. So blie­ben sie vor dem Grenz­ge­biet hängen, wo die Menschen densel­ben Glau­ben hatten wie zu Hause ihre Verfol­ger.
Der König dieses Landes aber inter­es­sierte sich nicht für Glau­bens­strei­tig­kei­ten. Er brauchte Menschen, die etwas konn­ten und mithel­fen woll­ten, seinen Staat wohl­ha­bend zu machen. Seinet­we­gen brauch­ten sie nicht übers Meer zu reisen. Er schenkte ihnen da, wo sie hängen­ge­blie­ben waren, Land und ließ sie ein Dorf bauen. Sie nann­ten es nach ihrer alten Heimat. Sie bauten, wie sie es zu Hause gewohnt waren, und die Einhei­mi­schen fanden diese Häuser merk­wür­dig. Auch behiel­ten sie ihre Spra­che.
Ein paar Gene­ra­tio­nen später, sie spra­chen immer noch komisch, hatten sie sich so vermehrt, dass ihr Dorf nicht mehr ausreichte, und ein Nach­fol­ger des Königs erlaubte, dass sie ein Stück des Reichs­wal­des rode­ten um ein neues Dorf zu bauen. Aus Dank­bar­keit nann­ten sie es Loui­sen­dorf, nach der Gemah­lin des neuen Königs.
Dieses neue Dorf war nicht irgend­wie zusam­men­ge­wür­felt. In der Mitte liegt bis heute eine große, quadra­ti­sche Wiese für alle. Von deren Eckpunk­ten laufen Stra­ßen in vier Himmels­rich­tun­gen. Die Grund­stü­cke dazwi­schen, größere und klei­nere, je nach Vermö­gen der Bewoh­ner, fügen sich zusam­men zu einem Plan, der Brüder­lich­keit ausstrahlt.
Als die Köni­gin mit vier­und­drei­ßig Jahren starb, pflanz­ten die dank­ba­ren Bewoh­ner des neuen Dorfes auf ihre zentrale Wiese einen Hain aus vier­und­drei­ßig Eichen. Das war, bevor ihr Mann Menschen um des Glau­bens willen nach Austra­lien vertrieb. Der Sohn ließ später mitten in diesen Hain ein Gottes­haus bauen, wodurch das utopi­sche Dorf doch noch etwas Spie­ßi­ges bekam.
Hundert­vier­zig Jahre später wurden weitere Teile des Reichs­wal­des gero­det, um Flücht­linge aufzu­neh­men, dies­mal aus Ostpreu­ßen, denn der letzte König und seine Nach­fol­ger hatten das Reich verspielt. Nicht einmal die Namen der neuen Dörfer erin­nern an die alte Heimat ihrer Bewoh­ner.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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