Asoziale Ruhe vs. soziale Unruhen

Im Moment tobt ein Streit durch die Poli­tik, den es so in der Bundes­re­pu­blik noch nicht gab: Auf der einen Seite stehen dieje­ni­gen, die davor warnen, dass die Wirt­schafts­krise “soziale Unru­hen” in der Bevöl­ke­rung hervor­brin­gen könnte. Gewerk­schafts­boss Michael Sommer sagte es als erster, ihm folgte die Kandi­da­tin für das Amt des Bundes­prä­si­den­ten, Gesine Schwan. Sie warn­ten — aber sie droh­ten nicht. Doch das bürger­li­che Lager übt sich wie so oft in der Vogel-Strauß-Stra­te­gie, sie wollen die Entwick­lung nicht sehen, stecken lieber ihren Kopf in den Sand. Und sie prügeln nun auf dieje­ni­gen ein, die das kommen sehen, was doch in unse­rem Land viel zu selten passiert. Denn soziale Unru­hen sind hier fast unbe­kannt, Stra­ßen­ge­walt kennen wir doch vor allem von poli­tisch verblen­de­ten Bürger­kin­dern, nicht aber aus größe­ren Teilen der Bevöl­ke­rung. Doch die poli­ti­sche Führung jault lieber auf und rich­tet den Über­brin­ger der schlech­ten Nach­richt hin. Angela Merkel teilte mit, dass sie die Sorgen vor sozia­len Unru­hen nicht teilt, es sei völlig unver­ant­wort­lich, Panik und Ängste zu schü­ren und etwas vorher­zu­sa­gen, was nicht der Reali­tät entspricht. Das erin­nert an “die Mauer wird auch in 50 und 100 Jahren noch stehen” — einen Monat vor ihren Fall. Bundes­wirt­schafts­mi­nis­ter Karl-Theo­dor zu Gutten­berg rief zwar erst zu Zurück­hal­tung auf, um dann jedoch die Warnun­gen als “verant­wor­tungs­los und dumm” zu bezeich­nen. Auch der Bundes­präsi Horst Köhler ließ es sich nicht nehmen, gegen seine Heraus­for­de­rin zu sticheln: “Was nicht gesche­hen sollte, ist, uns selbst erstens in Panik reden. Und zwei­tens in eine Situa­tion reden, als könn­ten wir diese Krise am Ende nicht beherr­schen”. Aber auch in der SPD gibt es Kräfte, die lieber nicht davon reden, es ist fast wie bei Harry Potters “Du-weißt-schon-wer”. Frak­ti­ons­chef Peter Struck: “Es ist nicht gut, wenn wir davon reden, dass hier Unru­hen ausbre­chen könn­ten wie in Frank­reich oder anderswo”.

Ich denke auch, dass es noch eine Weile dauern wird, aber wirk­li­che Unru­hen würden die Situa­tion wenigs­tens mal gerade rücken. Die Millio­nen von Menschen, die in Deutsch­land entwe­der arbeits­los sind, in 1‑Euro-Jobs ausge­beu­tet werden oder andere mies bezahlte und dazu extrem unsi­chere Arbeits­plätze haben, sie soll­ten endlich zeigen, dass sie die Spiel­chen der Poli­tik und der Wirt­schaft nicht mehr mitma­chen. Seit Jahren geht der Verdienst wach­sen­der Bevöl­ke­rungs­schich­ten immer weiter nach unten, die soge­nannte Einkom­mens­schere öffnet sich zuse­hends. Die Menschen werden verarscht, auch schon ohne Finanz­krise, sie sollen alles schlu­cken ohne zu maulen. Damit sie ruhig blei­ben, gibt es jeden Nach­mit­tag Verdum­mungs-TV. Statt über die eigene Lage nach­zu­den­ken und Konse­quen­zen daraus zu ziehen sollen die Arbeits­lo­sen fiktive Gerichts­shows schauen oder sich den Bezie­hungs­stress ande­rer Leute anse­hen, über deren Debi­li­tät man dann sein eige­nes Selbst­be­wusst­sein stär­ken kann.

Selbst bei den Schlie­ßun­gen von großen Werken oder Zechen gibt es nur verein­zelte Aktio­nen, Tril­ler­pfei­fen erset­zen den wirk­li­chen Protest, wann wurden schon mal ganze Städte lahm­ge­legt, verant­wort­li­che Bonzen oder Poli­ti­ker in ihren Büros besucht oder deren Werte umver­teilt? Anders als in Frank­reich gibt es bei uns keine solche Protest­kul­tur, die letz­ten wirk­li­chen Aufstände waren 1848, 1918 und 1989. Alle drei Male wurden die Menschen schnell mit Verspre­chun­gen und Glas­per­len ruhig gestellt. Es ist verständ­lich, dass die Herr­schen­den es nicht wieder so weit kommen lassen wollen. Allein dass sowas thema­ti­siert wird, scheint schön bäääh zu sein: Hier doch nicht, wir doch nicht, wir sind doch ordent­li­che Leute, wir sind doch eine Demo­kra­tie. Und in einer Demo­kra­tie, also Herr­schaft des Volkes, darf man doch das Volk nicht einfach machen lassen, was es will. Dazu gibt es schließ­lich die Poli­ti­ker, die uns schon sagen, was für uns gut ist. Und ausge­rech­net der eins­tige Chef des Inter­na­tio­na­len Währungs­fonds und jetzige Bundes­prä­si­dent stellt die Demo­kra­tie gegen das Volk. Es sind ja in erster Linie größere Teile der Bevöl­ke­rung, die unter der Finanz­krise am meis­ten leiden und noch leiden werden, nicht die Unter­neh­mer oder Poli­ti­ker. Aufgrund der zigmil­li­ar­den neuen Staats­schul­den werden in den kommen­den Jahren zahl­rei­che Sozi­al­leis­tun­gen gestri­chen, Ausga­ben wie die Kran­ken­ver­si­che­rung stei­gen, weitere Arbeits­plätze werden einge­spart.
Natür­lich jammern die Verant­wort­li­chen, dass nun jemand aus ihren eige­nen Reihen zur Vorsicht mahnt und davor warnt, es könnte eska­lie­ren. Gesine Schwan wird hinge­stellt, als hätte sie zum Umsturz aufge­ru­fen, sie wird zur Ketze­rin (Ketzer = Mensch, der eine Meinung vertritt, die von der sonst vorherr­schen­den Meinung abweicht), sie wird zur Jeanne d’Arc von 2009.

Schon die Heftig­keit des Aufschreis gegen sie über­rascht ein wenig. Offen­bar hat sie einen Punkt getrof­fen, der für die betref­fen­den Damen und Herren ein rich­ti­ges Problem darstellt. Sie haben Angst. Denn sie haben aus der jünge­ren Geschichte gelernt, dass bestehende Systeme schnell zusam­men­bre­chen können, Gewiss­hei­ten haben eine extrem kurze Halb­wert­zeit. Wer am 3. Okto­ber 1989 die Wieder­ver­ei­ni­gung der DDR mit der Bundes­re­pu­blik befür­wor­tet hat, wurde in Ost wie in West als Revan­chist beschimpft. Ein Jahr später war sie Reali­tät. Niemand weiß mehr, wohin die Reise unse­res Damp­fers geht. Weh dem, der davor warnt, die einge­schla­gene Route stur weiter zu verfol­gen. Er wird beschimpft, verbrannt, über Bord gewor­fen. So könnte es auch Gesine Schwan gehen, obwohl sie noch nicht mal einen ande­ren Weg vorge­schla­gen hat. So nervös sind sie schon, so groß ist die Angst.
Ob es soziale Unru­hen gibt und wohin sie führen, weiß ich auch nicht. Aber dass sie schlech­ter wären als die asoziale Ruhe, die die Poli­tik und Wirt­schaft jetzt unbe­dingt aufrecht erhal­ten wollen, weiß ich auch nicht.

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