Im Wertheim am Leipziger Platz

Damals sprach ganz Berlin von dem Waren­haus­neu­bau, der am Leip­zi­ger Platz und in der Leip­zi­ger Straße entstan­den war, rühmte den Bären­brun­nen und den Winter­gar­ten, den unge­heu­er­li­chen Luxus des Licht­ho­fes und pilgerte, sooft es irgend ging, dort­hin, ob nun Einkauf nötig war oder nicht.
Und wir Jungen mach­ten es nicht anders. Zwar hatten die Portiers Anwei­sung, allein kommende Kinder nicht in den Bau zu lassen, aber wir wuss­ten uns schon zu helfen. Rasch wähl­ten wir in der Vorhalle eine dick­li­che, nicht gar zu ener­gisch ausse­hende Madam und gingen nun sitt­sam rechts und links von ihr durch die verbo­tene Pforte, wobei wir uns, an ihr vorbei, eifrig unter­hiel­ten.

Waren wir dann erst im Bau, so streif­ten wir ihn von oben bis unten ab. Lange schien es, als kämen wir nie mit ihm zu Ende. Immer wieder entdeck­ten wir neue Abtei­lun­gen, dran­gen in völlig Unbe­kann­tes ein. Wir müssen dabei Ähnli­ches empfun­den haben wie Living­stone oder Stan­ley, als sie in den schwar­zen Erdteil vorstie­ßen. Und alles war mit den wunder­bars­ten Schät­zen gefüllt. Wir träum­ten davon. Wir unter­la­gen dersel­ben Verblen­dung wie ganz Berlin, das sich in jener Zeit, da solcher Prunk noch neu war, in den Gängen und vor den Tischen drängte: eine fiebe­ri­sche Besitz­gier, eine wahre Kauf­wut hatte alle erfasst. Hier sah auch der Ärmste die Reich­tü­mer der Welt vor sich ausge­brei­tet, nicht in Läden verstreut, die zu betre­ten er nie gewagt hätte, sondern gewis­ser­ma­ßen grade für ihn zurecht­ge­legt …

Im Waren­haus hatten wir unsere Lieb­lings­la­ger, vor allem das Bücher­la­ger selbst­ver­ständ­lich und die Spiel­wa­ren­ab­tei­lung. Aber ich spezi­ell bevor­zugte beson­ders die vergleichs­weise leere Betten­ab­tei­lung. Da ging ich gerne auf und ab. Ich liebte das Anse­hen und den Geruch der stei­fen roten, blauen und gestreif­ten Inlett­stoffe, ich liebte die großen Kästen, mit einer Glas­scheibe an ihrer Vorder­seite, in denen so leicht und duftig die Bett­fe­dern lagen, von der feins­ten Eider­daune bis zur grob gesplis­se­nen Hühner­fe­der. War aber gar erst die große Maschine zum Reini­gen der Bett­fe­dern in Gang und ich konnte hinein­se­hen in den tanzen­den, sich drehen­den Wirbel aus Federn und Staub, so kannte mein Entzü­cken keine Gren­zen!

Hans Fötsch wieder bevor­zugte die Lebens­mit­tel­ab­tei­lung. Da ging er mit seiner sommers wie winters spros­si­gen Nase genuss­süch­tig witternd auf und ab, sah andäch­tig zu, wie herku­li­sche Flei­scher mit Rinder­vier­teln und Schwei­ne­hälf­ten jonglier­ten, wie starke Hirsche ausge­wor­fen wurden, und stand zum Schluss am längs­ten vor den Glas­bas­sins mit den leben­den Fluss­fi­schen. Blau- und gelb­schup­pige Karp­fen beweg­ten sich dort, träge die Flos­sen rührend, während ihre Erbfeinde, die Hechte, jetzt ohne alle Angriffs­ab­sicht still und reglos über dem Gründe stan­den, auf dem sich Aale verknäult hatten.

Zum Schluss gingen wir meist noch in die Uhren­ab­tei­lung, die leider nur klein war. Wir lausch­ten andäch­tig dem Ticken vieler, vieler Uhren. Es schien hier gewis­ser­ma­ßen eine Werk­statt der Zeit zu sein, dieses unbe­greif­ba­ren Dinges Zeit, das wir nie verste­hen konn­ten, das uns jeden Tag unfass­lich verwan­delte, uns selber immer frem­der machte. Dieser unheim­li­chen Zeit schie­nen wir hier näher gekom­men beim Kuckucks­ruf der Schwarz­wäl­der Uhr, beim Gong­schlag der Stand­uh­ren und Regu­la­to­ren und vor allem bei jenen Uhren, die wir “Schlei­fuh­ren” getauft hatten. Sie saßen unter einem Glas­sturz, und das blanke, messing­po­lierte Werk bewegte sich offen vor unsern Augen, vorwärts, rück­wärts, immer eine halbe Drehung, völlig laut­los, aber eben sicht­bar. So stellte ich mir “Zeit” vor: rück­wärts, vorwärts, vor allem aber laut­los.
Sahen wir dann wirk­lich einmal auf das Ziffer­blatt dieser Uhren, so entdeck­ten wir oft, dass es zum Heim­lau­fen schon viel zu spät war. Willig opfer­ten wir den letz­ten Groschen unse­res Taschen­gel­des und fuhren mit der Elek­tri­schen. Glück­lich und strah­lend kamen wir daheim an, verrie­ten aber, um einem etwa­igen Verbot vorzu­beu­gen, den Eltern nie das Ziel unse­rer Exkur­sio­nen. Wir waren ganz einfach spazie­ren gegan­gen. Wohin? Och …

Hans Fallada: Damals bei uns daheim

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