Meine alte Oranienstraße

Viele Jahre lang war ich ein Kreuz­ber­ger. Die ersten 30 Jahre meines Lebens habe ich dort verbracht, Zuerst als Kind in der Gits­chi­ner Straße, erste Etage Vorder­haus, mein Kinder­zim­mer­fens­ter schaute direkt auf die Hoch­bahn. Dann in der Spring-Neubau­sied­lung, die kaum jemand kennt, obwohl dort der — ich glaube sogar offi­zi­elle — Mittel­punkt Berlins liegt. Ruhige Wohn­an­lage, nicht so ghet­to­mä­ßig wie das MV oder die Gropi­us­stadt, wir hatten auch nur ein einzi­ges Hoch­haus. Ab 1980 war ich dann fast ausschließ­lich im Kiez, also zwischen Moritz­platz und Schle­si­schem Tor, selten kam ich aus meiner Gegend heraus. Manch­mal ging es nach Schö­ne­berg, selte­ner nach Neukölln, aber sowas wie Span­dau oder Zehlen­dorf war fast schon Ausland.

Inner­halb des Kiezes bin ich oft umge­zo­gen, oft hatte ich auch gar keine Wohnung. Das Zentrum meines dama­li­gen Lebens war die Orani­en­straße. Sieben oder acht Häuser habe ich seit 1980 in dieser Straße bewohnt, ich kannte wirk­lich jeden Durch­gang, jeden Keller, ich wusste genau, wie man über die Dächer den ganzen Block umrun­den konnte. Und ganz wich­tig: Kein Poli­zist hat mich je erwischt, wenn ich mit Freun­den quer durch die Blöcke geflüch­tet bin, da war mir jede Müll­tonne bekannt, über die ich über Mauern drüber kam. Auch jedes Hinter­haus, das im Keller einen Durch­bruch zur ande­ren Seite hatte, kannte ich, es war wirk­lich mein Zuhause. Genauso sah es drau­ßen aus: Die verblas­sen­den aufge­mal­ten Firmen­na­men über den Läden und Einfahr­ten beglei­te­ten mich über die Jahre. Ich sah, wie sich die Häuser entwi­ckel­ten, und die Menschen in ihnen. So manchen habe ich als Kind zum ersten Mal gese­hen, später mit ihm Häuser besetzt, und manche sah ich auch ster­ben. Viele sogar. Teil­weise durch Alko­hol oder andere Drogen, zwei kamen durch die Poli­zei ums Leben, ein paar brach­ten sich selber um. Am schlimms­ten ist mir noch Tommy in Erin­ne­rung, ein lusti­ger Junge aus dem Neben­haus, viel­leicht 11 oder 12 Jahre alt. Beide Eltern waren Alko­ho­li­ker, irgend­wann fing auch er an. Mit 15 war er davon aufge­dun­sen, eines  Tages trugen sie ihnen tot aus der Wohnung. So ist das Leben, so war das Leben damals in der Orani­en­straße oft. Die kaput­ten, bröckeln­den Haus­fas­sa­den, die stin­ken­den und dunk­len Trep­pen­flure, sie waren wie die Bewoh­ner. Ich empfand das damals nicht als schreck­lich, es war normal. Doch bei den alten Leuten wurde ich mitlei­dig. Manch­mal besorgte ich für eine Grei­sin aus meinem Haus Holz und heizte ihren Ofen, denn das konnte sie nicht mehr allein. Damals gab es noch in den meis­ten Häusern Ofen­hei­zung, wer aber keine Kohlen hatte oder sie nicht mehr tragen konnte, musste frie­ren. In einem der Häuser hatte ich mal eine Nach­ba­rin, sie hieß Martha und war Mitte 80. Beim Krawall am 1. Mai 1987 wurde auch der Super­markt am Orani­en­platz geplün­dert und so ging ich mit meinem Freund dort rein. Mit Kaffee und Ziga­ret­ten, Käse und Wurst kamen wir nach Hause und wurden oben von Martha empfan­gen. Sie freute sich für uns und wir schenk­ten ihr unsere Beute. Sie war glück­lich, hat es zuerst abge­lehnt und dann doch ange­nom­men. Dann haben wir zusam­men in ihrer klei­nen Wohnung mitten in der Nacht den 1. Mai gefei­ert. Als ihr Sohn sie am nächs­ten Tag besuchte, hörten wir sein Gebrüll und sind sofort rüber. Er schrie sie an, dass sie das geklaute Zeug sofort wegwer­fen sollte. Es gab eine kurze Schlä­ge­rei mit ihm, die er verlor. Martha weinte sehr und sagte, dass sie glück­lich ist, solche Nach­barn wie uns zu haben. Gleich­zei­tig nahm sie aber natür­lich ihren Sohn in Schutz, es war ja auch ihr einzi­ger.

Am Hein­rich­platz lebte ein Alko­ho­li­ker, noch nicht sehr alt, höchs­tens 24 Jahre, der zwei kleine Mädchen hatte. Wir hatten nie eine Mutter bei ihnen gese­hen, immer brachte er sie in den Kinder­gar­ten, und manch­mal gingen sie auch allein hin. Nach­mit­tags spiel­ten sie oft bei uns im Hof und ein paar­mal brachte ich sie nach Hause, wenn es schon längst dunkel war, wenn ihr Vater wieder mal betrun­ken im Bett schlief. Als eines Tages der Wagen vom Bestat­tungs­in­sti­tut seinen Sarg abholte, sah ich die beiden Mäus­chen an einer Frau stehen, offen­bar die Mutter. Ganz kurz ging ich hin, wollte die beiden trös­ten, die über­haupt nicht verstan­den, was da gerade passierte. Doch die Mutter stieß mich weg, ihre Kinder würden jetzt ein besse­res Leben bekom­men, raus aus dem Dreck. Ich hoffe, dass sie Wort gehal­ten hat.

In der Orani­en­straße entstan­den seit Ende der 70er Jahre viele neue Wohn­ge­mein­schaf­ten und Kommu­nen, teil­weise in besetz­ten Häusern. Es war eine große Zeit des Auspro­bie­rens, die meis­ten waren wie ich noch sehr jung und sehr neugie­rig. In manchen Hinter­hof­woh­nun­gen entstan­den Werk­stät­ten, Remi­sen wurden umge­baut, plötz­lich kam auch Farbe in die Straße: Die vielen bunten Trans­pa­rente an den besetz­ten Häusern und die zahl­rei­chen Fassa­den, die nun ange­malt wurden, sie stan­den für das neue Leben, das dort einzog. Die Häuser­be­we­gung zog ja auch manch alte Leute mit, gerade die armen, die kaum von ihrer klei­nen Rente leben konn­ten. Zusam­men feier­ten wir auf den Höfen, manch­mal auch spon­tan auf der Straße, jeder der konnte brachte was mit runter, alles kam auf den Tisch und jeder konnte davon nehmen. Immer fanden sich welche, die mit Gitarre und Bongos Musik mach­ten, manch­mal auch mit Geige, doch leider been­dete oft die Poli­zei unsere Party.

Wenn man alte Fotos von damals anschaut, sieht man meist nur kaputte Haus­fas­sa­den, morbi­den Charme. Doch neben dem Elend in den Häusern gab es eben auch das andere, die Künst­ler, die Jugend­li­chen und Frauen, die Fanta­sie, die mit Farbe, Musik und vielen Ideen Leben hinein brach­ten. Es entwi­ckel­ten sich Szenen, Schwule, Punks, Poli­ti­sche, Frauen-Power-Frauen. Auf meinen Streif­zü­gen durch das Leben im Kiez fand ich Ateliers in ehema­li­gen Fabrik­eta­gen, in ande­ren lebten die Bewoh­ner zusam­men in den riesi­gen Räumen als Kommune zusam­men, in wieder ande­ren stan­den kleine Druck­ma­schi­nen, auf denen Raub­dru­cke herge­stellt wurden, also Nach­dru­cke von Büchern, die dann in den Knei­pen der Stadt billig verkauft wurden. Ich landete in einer Sado-Maso-Wohnung, in einer ille­ga­len WG, deren Bewoh­ner nicht älter als 15 Jahre alt waren. Als ich mit einem Freund eine große Wohnung im vier­ten Stock besetzte, mit Blick Rich­tung Süden, pflanz­ten wir in einem Zimmer Canna­bis an, in einem ande­ren Kartof­feln. Zwar regnete es manch­mal in der Wohnung unter uns durch, aber das war nicht so schlimm, weil dort niemand wohnte, sondern sich da nur das Waren­la­ger eines Hehlers befand.
In warmen Sommer­näch­ten schlie­fen wir auch auf Dächern, vor allem die von den Hinter­hof­fa­bri­ken waren meis­tens flach. Gefrüh­stückt wurde dort sowieso öfter und span­nend waren die Ausflüge: Die meis­ten Häuser hatten ja Schräg­dä­cher und neben der Dach­spitze waren Bret­ter befes­tigt, auf denen die Schorn­stein­fe­ger laufen konn­ten. Es kam vor, dass Bret­ter nicht mehr fest waren oder schon verrot­tet, dann musste man beson­ders vorsich­tig sein. Im Block­in­nern war es natür­lich beson­ders inter­es­sant. Dort stan­den die Seiten­flü­gel des einen Hauses Rücken an Rücken mit dem vom Neben­haus. Wenn nun im Krieg eines der Gebäude zerstört war, lief man auf dem Brett des ande­ren, direkt am Abgrund, in ca. 25 Meter Höhe. Da die Häuser nicht alle gleich hoch sind, musste man auch oft klet­tern, und es kam auch vor, dass man sich da oben mal verlief.
Das Bild der Orani­en­straße war auch von den Plaka­ten geprägt. Jede Stelle war zuge­klebt, selbst Haus­tü­ren waren nicht sicher. Die kommer­zi­el­len Plakate waren in der Minder­heit, meist waren es Aufrufe zu Demons­tra­tio­nen oder zu unse­ren Festen und Konzer­ten, auch zu Thea­ter­auf­füh­run­gen in Höfen oder besetz­ten Häusern. Und an den weni­gen Fassa­den, an denen keine Plakate kleb­ten, brach­ten wir unsere Paro­len oder Zeichen an. Mein ANDI 80 prangte in der Orani­en­straße an mindes­tens jedem zwei­ten Haus.

Wenn ich heute in die Orani­en­straße komme, dann ist das wie zu Besuch in einer ande­ren Stadt. Die meis­ten Läden sind verschwun­den, nur Farben-Kazca, das Max & Moritz, die Stiege und die Rote Harfe sind noch übrig. Alles andere kam erst später, das Anti­qua­riat in der 45, das SO36, das Jenseits. Und die vielen Bars und Klamot­ten­lä­den, die heute das Bild der Straße bestim­men. Die Fassa­den sind jetzt alle bunt, mindes­tens pastell­far­ben, in die Häuser kommt man nur noch mit Schlüs­sel, und wenn man mal auf einem Hof steht, gehts dort nicht mehr weiter. Die klei­nen Rasen­flä­chen hinter den Häusern sind sauber geschnit­ten, der Müll wird getrennt. Die Straße ist ein biss­chen wie Disney­land, für die Touris­ten ist sie sicher super inter­es­sant und authen­tisch. Die Türken, Studen­ten und “Alter­na­ti­ven”, die den Orani­en­kiez heute prägen, sind die Nach­fol­ger meiner Gene­ra­tion. Doch sie sind mir fremd, obwohl es sie auch damals schon gab. Die Armut ist verschwun­den, das ist gut, aber die Aufbruch­stim­mung auch, und das ist schade.

Viel­leicht bin ich zu konser­va­tiv, viel­leicht kann ich das Neue nicht akzep­tie­ren, weil ich nicht mehr dazu gehöre. Mögli­cher­weise will ich mir auch nicht einge­ste­hen, dass ich einfach schon zu erwach­sen bin, und die Stät­ten der Jugend nun mal mit ihr verschwun­den sind. Man sagt Leuten wie mir ja nach, dass wir nicht erwach­sen werden können oder wollen. Da ist schon was dran. Die alte Orani­en­straße jeden­falls gehört für mich defi­ni­tiv zu meiner Jugend. Und viel­leicht habe ich ja Glück und entde­cke irgendwo doch noch ein gesprüh­tes…

ANDI 80

Foto: Roeh­ren­see / CC BY-SA 3.0

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9 Kommentare

  1. Schö­ner Arti­kel!

    Ich kann nur meinen (nicht vorhan­de­nen) Hut ziehen vor so viel Erfah­run­gen. Mit glei­chem kann ich nicht auftrump­fen. Ich bin mehr oder minder wohl­be­hü­tet in einer der wohl­be­hü­tets­ten Städte (Stutt­gart) aufge­wach­sen.
    Aber spätes­tens den Punkt

    “Viel­leicht bin ich zu konser­va­tiv, viel­leicht kann ich das Neue nicht akzep­tie­ren, weil ich nicht mehr dazu gehöre.”

    kann ich sehr gut verste­hen. Ich bin zwar “erst” 27, aber dennoch wird mir das ein oder andere Mal erschre­ckend bewusst, dass ich nicht mehr zu “der Jugend” gehöre, dass vieles, was ich kennen und lieben gelernt habe, inzwi­schen alt und über­holt ist.

    Das ist ein verdammt komi­sches Gefühl — insbe­son­dere, wenn man sich selbst noch (zumin­dest teil­weise) in der Rolle des revo­lu­tio­nä­ren Erneue­rers sieht. Es erschreckt fast, zu hören, dass das nicht zwin­gend in den nächs­ten Jahren aufhö­ren wird…

    • Wenn du dich mit 27 schon so fühlst, dann wart mal ab, wenn du die 50 erreicht hast. Ich kenne das Kreuz­berg der 70er, 80er und 90er. Heute ist das wirk­lich eine völlig andere Welt.

  2. Oh, die Orani­en­str. Schö­nes Thema. Als ich Mitte der Acht­zi­ger Jahre nach Berlin kam, hatte ich das Glück, gleich eine Wohnung in meiner “Traum­straße” (was ich damals aber noch nicht wusste) zu finden. Nicht weit weg von der O‑Straße, war diese für mich immer eine Methode irgend­wel­che Downs zu kompen­sie­ren. Wenn es mir mal schlecht ging, schlen­derte ich einfach die O‑Sraße runter, um am ande­ren Ende so eine selt­same Gesichts­ver­zer­rung bei mir fest­zu­stel­len — ein Lächeln.

  3. Nicht weit weg von der O‑Straße, war diese für mich immer eine Methode irgend­wel­che Downs zu kompen­sie­ren.

    Damit meinte ich, dass meine “Traum­straße” nicht weit weg von der O‑Straße liegt. Miss­ver­ständ­lich ausge­drückt.

  4. Wirk­lich schö­ner Arti­kel, ich wohne seit knapp 22 Jahren in der Orani­en­straße und muss sagen ihren Charme (von wo ab ich mich erin­ner bis jetzt) hat Sie nicht verlo­ren, mit der Zeit ändern sich halt ein paar Dinge, aber das ist für eine Metro­pole wie Berlin ganz klar. Immer wenn ich in meine Straße zurück­kehre, bin ich wieder gebor­gen. ;)
    Die 70er und (frühen) 80er (in Kreuz­berg) hätte ich aller­dings auch gerne miter­lebt. Naja man darf wirk­lich nicht zu konser­va­tiv sein wenn man in einer so beweg­ten Stadt wie Berlin (ZENTRAL) lebt.

  5. Es tut so gut so was zu lesen! Aber was mich bren­nend interessiert—-kannst du dich auch an eine alte Omi mit grauen Haaren erin­nern, die immer aus der 1.Og Nr. 36 mit ihrem Kissen ausm Fens­ter geguckt hat??? Sie gehörte zum Straßenbild—-es war meinen Oma ♥ Würde einfach nur schön zu wissen, dass sich jemand an sie erin­nert ;-) Lg…

  6. Lieber Andi,

    herz­li­chen Dank für den wunder­ba­ren Beitrag. Ich habe Mitte der 70er Jahre in der Orani­en­strasse im 1. oder 2. Hinter­hof in einer Drucke­rei als Schrift­set­zer gear­bei­tet, deren Name ich nicht mehr kenne. Nun bin ich auf der Suche. Haben Sie ((Du) viel­leicht eine Idee, wie sie gehei­ßen haben könnte?

    Herz­li­che Grüße aus Bremen

  7. Ich kann das so gut verste­hen! War damals nur wenige Wochen dort, dann hat es mich nach Schö­ne­berg verschla­gen. Aber Du hast die Stim­mung wunder­voll beschrie­ben.

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