Ordnung muss sein
Oder nach Potsdam. Da sind zwar nicht die Straßen systematisch nummeriert, aber Ordnung herrscht in den Köpfen.
In Potsdam baute der Große Kurfürst sich ein Schloss. Sein Sohn erweiterte es, weil er überall Schlösser erweiterte. Sein Enkel bewohnte nur einige Räume und benutzte den Rest als Verwaltungsbau. Den Lustgarten ließ er abholzen, um einen preisgünstigen Exerzierplatz in bester Lage zu erhalten. Er hatte seine Residenz nach Potsdam verlegt, weil die Berliner damals schon anarchistisch und unordentlich waren. In so einer Stadt konnte er kein Militär mit Zucht und Ordnung aufbauen. Potsdam war klein und übersichtlich, und dort waren die Menschen damals schon sehr ordentlich und gehorsam.
Ulbricht ließ später den ganzen Schlossbau sowie die von Friedrich Wilhelm I. gebaute Garnisonkirche sprengen und abtragen und baute auf den Exerzierplatz ein stark phallisches Interhotel. Magritte malte inzwischen ein Bild von einer Pfeife mit der kalligraphierten Mitteilung auf Französisch, dass das keine Pfeife sei. Was ja auch stimmt; es ist nur die Abbildung einer solchen.
Nachdem der Westen auch in Brandenburg angekommen war, baute sich dieses neue Bundesland am Ort des alten Schlosses ein hochmodernes Landtagsgebäude. Nur von außen sieht es genau aus wie das alte Schloss. Die Fassade besteht sogar aus den gleichen Materialien wie man sie damals zum Schlossbau verwendete. Damit die Leute nicht durcheinanderkommen und Kunstkenner sich freuen, steht draußen in der Schrift von Magritte auf Französisch drauf, dass dies kein Schloss ist.
Noch immer ist ein bedeutender Teil der Potsdamer Bevölkerung SED-linientreu und verhindert den Wiederaufbau der Garnisonkirche und den Abbruch des phallischen Hotels. Wer wissen will, wie Potsdam ohne die Plattenbauten der DDR aussah, sollte sich in Haus Doorn die Aquarelle im Zimmer Hermines, der zweiten Frau des Ex-Kaisers, anschauen. Leider kann man die nicht als Postkarten oder Kalender kaufen.
In das Schloss, das keines ist, darf man rein. Die Aussicht von der Dachterrasse und die Qualität des Essens in der für fast jedermann zugänglichen Kantine lohnen einen Besuch.
Einmal im Winter durfte ich das Gebäude nicht betreten, ohne meine Jacke an der Garderobe zu lassen. Es war keine Lederjacke, wie sie rüpelige Motorradfahrer oder vermeintliche Satanisten tragen, sondern eine der kalten Witterung und, wie ich ernsthaft glaubte, der Würde hohen Hauses angemessene leichte, gefütterte Jacke mit Strickbündchen, dunkelgrün, ohne jegliche Abzeichen oder Markenzeichen, mit der ich noch nie irgendwo Schwierigkeiten hatte. Es wäre, so erklärte mir der sehr korrekte und höfliche Pförtner, eine Bomberjacke, und die sei laut Hausordnung verboten.
Ordnung muss sein. Einer Hausordnung fügt man sich als Gast ohne Widerspruch. Aber am Abend versuchte ich, mich kundig zu machen, was da wohl los ist. Auf der Webseite des Landtags findet man tatsächlich eine Pressemitteilung ohne Datum, in der erklärt wird, dass „Bomberjacken” verboten sind und warum. Sie sind nämlich „geeignet […], Missverständnisse hervorzurufen“, und das hat etwas mit Neonazis zu tun.
Ob und wie ich im Landtag essen darf, ist nicht weiter wichtig; aber die Sicht eines demokratischen Parlamentes auf Bildung, Ordnung und Menschen, wie sie aus dieser Hausordnung sprach, erschien mir als Demokrat und Wissenschaftler bedenklich. Da ist sogar das Zeigen der Ziffernfolge „88“ im Landtag verboten, während draußen im Lande Flüchtlinge von Neonazis totgeschlagen werden. Darum tat ich, was man in den Niederlanden, wo ich lebe, tut: Ich schrieb an den Fraktionsvorsitzenden einer mir nahestehenden Partei in der Hoffnung, in einem konkreten Fall zu einem etwas vernünftigeren Staat beizutragen. Ich erklärte meine drei Sorgen: erstens, dass man offenbar ein ernstes Problem, statt es im Lande zu bekämpfen, im eigenen Hause unsichtbar machen wolle; zweitens, dass man statt des gefährlichen Inhaltes mit einer akribischen Liste nur Abzeichen, Codes und Symbole bekämpfe, während es in den Köpfen ungestört weitergehe; drittens, dass es wohl weniger darum gehe, was wirklich hilft, als darum, was ein Pförtner ohne Weisheit anwenden kann.
Mit anderen Worten: nicht sehen wollen; Symptombekämpfung statt Therapie; Hauptsache, es geschieht etwas. Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Hier im Kleinen fängt es an.
Mein Brief war lang, weil ich meine Sorge gründlich erklären wollte: Da gibt es Kleidungsstücke, die einfach angenehm und zweckmäßig sind und dabei gut aussehen, zum Beispiel leichte, warme Jacken aus Kunstseide oder solche Schnürstiefel, wie sie die niederländische Armee verwendet, die von Orthopäden für lange Wanderungen empfohlen werden.
Es fing an in der Zeit, in der Franz Josef Degenhardt sang:
Erst Freitag nach Schichtschluß dreht er auf. Wegduschen erst mal den verdammten Gestank. Dann den Karierten an, braun, Jacke halblang, Binder um, farbig und breit, aber damit auch Schluß. So´n bißchen auf sweet, aber hart, wenn‘s sein muß.
Junge Männer in Nordengland behielten damals ihre Arbeitskleidung auch in ihrer Freizeit demonstrativ an und wollten immer hart aussehen, nicht nur „wenn‘s sein muss“. Weil sie ihre Schädel rasierten, wurden sie Skinheads genannt.
Die Mode wurden dann von vielen Männern übernommen. In Berlin laufen massenhaft völlig harmlose Männer so herum, weil sie selbst und und ihre Kumpels finden, dass sie gut aussehen. Währenddessen wurden einige, aber lange nicht alle Skinheads mit nationalsozialistischem Gedankengut infiltriert und radikalisiert. Und deshalb ist nun alles, was so ähnlich aussieht wie geschnürte Arbeitsstiefel und Pilotenjacken, im Brandenburger Landtag verboten. Da soll mir einmal einer erklären, was man sich davon verspricht. Wünscht man sich Untertanen, die auf alles Harmlose, was Spaß macht, in vorauseilendem Gehorsam verzichten, nur weil es möglicherweise Missverständnisse hervorruft, während die wirklich gefährlichen Leute sich mit ordentlichen Anzügen tarnen?
Einen ähnlichen Brief schrieb ich auch der Vorsitzenden des Landtags als Hausherrin.
Die SPD hat auch nach Monaten noch nicht reagiert, nicht einmal mit einem nichtssagenden Formbrief. Man brütet wohl noch über dem Problem. Der Brief an die Vorsitzende wurde dagegen von einem Mitarbeiter sorgfältig beantwortet, und er schlug ein Treffen vor. Wir aßen zusammen auf der Dachterrasse, und ich brachte meine drei Bedenken noch einmal vor.
Was den ersten Punkt betraf, konnte der Mitarbeiter mich einerseits beruhigen: Man tue viel im ganzen Lande, zum Beispiel an Schulen. Nur eben, andererseits, gelinge es nicht, hier im Landtagsgebäude das Richtige zu tun. Die Abgeordneten könnten, so meinte er genau wie ich, erkennbare Neonazis im Gebäude sofort ins Gespräch verwickeln, um wirklich zu verstehen, was im Lande los ist, und um vielleicht zu überzeugen. Nur würde das wohl selten gelingen. Die Abgeordneten hätten schon genug Sorgen, kaum Zeit, und solche Gespräche könnten von den Medien missdeutet werden.
Stattdessen, so führte ich den Gedanken weiter, erlassen sie Hausordnungen fürs Parlamentsgebäude, die das Problem unsichtbar machen. Wäre es nicht wünschenswert, dass die Politiker sehen, wie viele Leute sich ihrer Überzeugung nicht schämen? Inzwischen weiß man ja, dass die Neonazis in den neuen Bundesländern nicht durch die Wende entstanden sind. Sie waren immer schon da. Nur wollte das DDR-Regime davon nichts wissen, und die Staatssicherheit hütete sich genau wie die Hofschranzen Friedrichs I. davor, schlechte Nachrichten zu überbringen. Heute scheint es nicht viel anders zu sein.
Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bürgermeister von Neukölln, hat hingeschaut, sich den Problemen gestellt, einige wirklich gelöst und die restlichen gut belegt und in Neukölln ist überall genau beschrieben. Er hat versucht, die Botschaft seines Buches in seine eigene Partei hineinzutragen, um Unterstützung zu bekommen und um Lösungswege zu zeigen. Seine Parteigenossen fanden das nicht nur nicht interessant, sie haben ihn sogar dafür beschimpft und ihm Dinge in den Mund gelegt, die er niemals behauptet hat. Eine Politik, die schon solch ein Buch eines Parteigenossen nicht mit Verständnis zu lesen im Stande ist, geschweige denn, mit Andersdenkenden in Diskussion zu gehen, kann nichts Sinnvolles erreichen. Aber wenn sie sich mit der eigenen Hausordnung beschäftigt, gibt das wahrscheinlich ein gutes Gefühl. Und draußen wird gegen die Islamisierung oder was auch immer demonstriert.
Auch über meine zweite Befürchtung, dass hier gar kein Problem angepackt wird, sondern nur das, was naive Gemüter für seine Anzeichen halten könnten, waren wir uns im Prinzip einig. Neonazis erkennen sich gegenseitig an „Codes“ wie 88 (für „HH“, was ja bekanntlich die Abkürzung von „Heil Hitler“ ist) oder gewisse vier Buchstaben, wenn man das LONSDALE-Hemd geschickt unter offener Jacke trägt. Und wer diese Codes kennt, sieht, wie viele dieser Menschen herumlaufen. Wobei diese Codes auch täuschen können. In Norddeutschland fahren verdächtig viele Autos mit den Buchstaben HH auf dem Nummernschild herum. Wenn mir der Sicherheitsdienst im Landtag die Taschen durchsucht hätte, hätte er einen Ausweis gefunden, auf dem deutlich NS steht. Da kann ich lange beteuern, dass das die Bahncard der Niederländischen Schienenwege sei. Ein Code bleibt ein Code.
Wieder führte ich den Gedanken weiter: Wenn die Angst schon bei ein paar Ziffern, Buchstaben oder weißen Schnürsenkeln und gar bei Kleidungsstücken, die missverständlich sein könnten, ausbricht, dauert es nicht mehr lange, bis man ganze Stadtschlösser und Kirchen sprengt, egal wie kunsthistorisch wertvoll die sind. Die tragen ja auch geheime Botschaften oder könnten zumindest missverständlich sein. Hinterher muss man sie dann mühsam wieder aufbauen. Alles schon dagewesen, gerade hier.
Der Mitarbeiter bestätigte die Absurdität. Da stand nämlich, so berichtete er, neulich einer mit einem T‑Shirt in der Halle, auf dem eine große 88 prangte. Klitzeklein standen da Worte drüber und drunter: „Der Brandenburgische Landtag hat 88 Abgeordnete.“ Katz und Maus.
Meine dritte Befürchtung ist, dass es bei dieser Hausordnung weniger darum geht, ob etwas wirkt, als darum, ob Ordnungskräfte es durchführen können. Ich brachte ein Beispiel: Ich weiß, dass Telefonieren beim Autofahren lebensgefährlich ist, und tue so etwas aus Überzeugung nicht. Aber ich hatte einmal mit reinstem Gewissen an einer roten Ampel stehend mein iPhone halb aus der Hemdtasche gelüpft, um die Uhrzeit abzulesen. Das hat mich fast hundert Euro gekostet und mir einen Punkt in Flensburg eingebracht, weil das verboten und leicht zu kontrollieren ist. Ob ich denn stattdessen beim Fahren mit der Fernbedienung mein Navi hätte programmieren dürfen, fragte ich den Polizisten. Das ja, denn darin sitzt kein GSM-Chip. Das ist zwar gefährlich, aber eben nicht verboten. Ob jemand telefoniert, ist nicht leicht zu kontrollieren; also ist das In-der-Hand-Halten schon verboten, selbst wenn das Auto steht. Denn dann ist es ja gerade besonders leicht kontrollierbar. Mit praktischen, warmen Jacken sei es ja wohl so ähnlich.
Der Mitarbeiter zeigte Verständnis für die Pförtner. Ohne klare Regeln wären sie wohl überfordert, und selbst mit solchen ginge es ja offenbar noch schief. Er könne sich nicht vorstellen, dass ich wirklich eine echte Nazi-Bomberjacke getragen hätte. Die hätten nämlich alle ein orange Innenfutter, und das stünde auch genau so in der Hausordnung.
„Das konnte er doch gar nicht sehen,“ entgegnete ich, „denn ich trage meine Jacke immer peinlichst geschlossen, damit man nicht denkt, ich wäre ein holländischer Fußball-Hooligan.“
Lieber Leser: Diese Pilotenjacken einer renommierten, völlig unverdächtigen Firma für Berufskleidung sind innen orange, damit man sie bei Gefahr wenden kann und keine Sicherheitsweste braucht.
Rainald Grebe singt über Brandenburg: „Da stehen drei Nazis auf einem Hügel und finden keinen zum Verprügeln.“ Wenn das so ist, brauchen die doch gar keine Erkennungszeichen. Der Mitarbeiter bestätigt, dass man sie heutzutage auch gar nicht mehr erkennen kann. Mein orange Innenfutter ist völlig aus der Mode.
Und was wie ein Schloss aussieht, ist auch keines. Und ganz sicher weht hier nicht der Geist Friedrich Wilhelms I., der von diesem Ort aus regierte. Ich habe mich schlau gemacht: Der Landtag in Brandenburg ist so modern, dass man die gesamte Verwaltung privatisiert hat. Public Private Partnership heißt das. Die Zuteilung von Büroräumen, Bleistiften und Lochern, die Kontrolle des Zugangs, die Sicherheit, die Telefonanlage und die Computer am Arbeitsplatz, die Heizung – alles obliegt einer holländischen Baufirma. Ob die den Pförtnern und Sicherheitsleuten überhaupt den Mindestlohn bezahlt? Diese Menschen sind korrekt gekleidet und höflich, aber sie arbeiten nicht für das Land.
Man stelle sich den König vor, wie er zum Beispiel bemerkt, dass es in seinem Schloss schmutzig ist. Er, der sich um alles persönlich kümmert, will die Reinigungskräfte anherrschen, darf ihnen jedoch nichts sagen und kann sie sowieso nicht erreichen, weil der Oberhofmeister gar nicht genug Reinigungskräfte ins Schloss schickt. Der Oberhofmeister aber steht im Dienste der Holländer. Der preußische König müsste seinen Sekretär beauftragen, ein Formular auszufüllen und dem Sekretär des Chefs des holländischen Oberhofmeisters zu übermitteln.
Ist dieser Vergleich an den Haaren herbeigezogen? Immerhin heißt der Konzern, der heute mit dem Land Brandenburg einen Vertrag auf dreißig Jahre hat, Koninklijke Bataafsche Aanneming Maatschappij. Er ging aus einer Schreinerei hervor, die sich auf die Reparatur von Windmühlen und Erzeugung von Särgen fürs eigene Land beschränkte; aber Familienbetriebe müssen mit der Zeit gehen, wenn sie mächtig werden wollen. Oft hilft ein Generationswechsel.
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