Bedeutungslose Übungen
In, aber nicht auf dem Kreuzberg soll es einen Stein geben, der verkündet, hier wäre die Mitte Berlins. Im Internet findet man Wörter wie „absolute“, „geographische“, „topographische“ Mitte; aber ich bekam nicht heraus, wie dies eigentlich definiert ist.
Naive Gemüter würden wohl auf einer genauen Landkarte nachschauen, von welchem Rechteck aus Längen- und Breitengraden Berlin begrenzt wird, diese Werte mitteln und so den Mittelpunkt dieses Rechtecks bestimmen. Auf diese Weise ist der Kirchturm von Amersfoort der Mittelpunkt der Niederlande geworden. Bei der Stadt Berlin käme man so auf einen Punkt in Kreuzberg, wenn wir Potsdam mit einbeziehen, aber auf einen Punkt am Rande von Schöneberg, was uns eines neuen Problems bewusst werden lässt: Zum Bau von Eisenbahnlinien wurden viele Gräber von Schöneberger Friedhöfen umgebettet nach Stahnsdorf, das weder zu Berlin noch zu Potsdam gehört und das dazu einen eigenen S‑Bahn-Anschluss bekam. Inzwischen liegen dort berühmte Berliner. Muss man diese Toten bei der geographischen Mittenbestimmung auch berücksichtigen?
Davon abgesehen könnte man aber auch den nördlichsten und südlichsten Punkt der Stadt mit einer Gerade verbinden, ebenso den westlichsten und östlichsten. Der Schnittpunkt dieses schiefen Kreuzes wäre ein Punkt zwischen Köpenicker Schloss und Müggelsee. In allen Fällen hängt das Ergebnis auch noch davon ab, ob man vom magnetischen oder geographischen Nordpol ausgeht.
Mathematikern und Naturwissenschaftlern graut vor solchen willkürlichen Definitionen, die auch noch von einem zufällig üblichen Koordinatensystem abhängen.
Da kann man schon besser den Schwerpunkt des Gebietes als Mittelpunkt wählen. Man klebt eine Landkarte auf eine Sperrholzplatte, sägt das Gebiet genau entlang der Grenze mit einer Laubsäge aus und versucht durch Balancieren des Ergebnisses auf einer Stecknadel den Punkt zu finden.
Wenn das Gebiet Exklaven hat, fallen die beim Aussägen alle runter, und man muss sich etwas überlegen. Nun liegen die meisten Berliner Exklaven auf Potsdamer Gebiet, und Potsdam sägen wir ja mit Berlin zusammen aus. Aber die Fichtewiese, der Erlengrund und der Eiskeller würden doch Probleme geben.
Man erfährt ihre bemerkenswerte Geschichte, wenn man das Stück Mauerweg von Norden bis nach Staaken radelt.
Fichtewiese und Erlengrund sind unbewohnte West-Berliner Grundstücke, die nahe hinter der Grenze in Brandenburg liegen. Die Eigentümer und ihre Freunde wollten zu Zeiten der Mauer dort Präsenz zeigen, und zwar ohne Riesen-Umweg über einen der offiziellen Grenzübergänge. Unter dem Druck der Alliierten brachte die DDR dazu eine Tür mit Klingel und Sprechanlage in der Mauer an. Es klingelte im nächstgelegenen Wachtturm einige hundert Meter weiter, und wenn man an der Sprechanlage einen guten Eindruck machte, kam ein Grenzer, machte auf, und man konnte mit seinen Bierkästen auf die Wiese. Leider hat der Denkmalschutz auch hier versagt: von dieser Tür ist nichts mehr übrig. Kennen Sie andere Staaten, bei denen man klingeln kann, um reinzukommen?
Der Eiskeller ist ebensowenig ein Keller, wie Baumschulenweg ein Weg ist. Er ist eine bewohnte Exklave, und die Eingeborenen mussten ein paar hundert Meter durch die DDR, wenn sie zum Beispiel zur Schule wollten. Eines Tages kam ein Schüler erst spät abends wieder nach Hause, weil die Grenzer ihn den ganzen Tag festgehalten und verhört hatten. Das löste eine internationale Krise aus, und danach sicherten britische Panzerspähwagen den Schulweg. Erst Jahrzehnte später gab der ehemalige Schüler zu, dass er sich die Geschichte nur ausgedacht hatte, weil er die Schule schwänzen wollte. Wie muss er sich damals gefühlt haben, als in England und Amerika im Fernsehen über ihn berichtet wurde und beinahe ein Krieg ausbrach?
Das Problem mit den herunterfallenden Exklaven beim Aussägen hat man nicht, wenn man den Mittelpunkt des kleinsten Kreises bestimmt, der das Gebiet gerade noch umschließt. Aber das ist gar nicht so einfach. Probieren Sie mal!
All diese Definitionen hängen aber sowieso vom Zeitpunkt ab, denn ab und zu wird West-Staaken abgetrennt, dann wieder zugefügt, oder ein Dorf wird eingemeindet oder es gibt einen Gebietstausch zwischen Ex- und Enklaven. Und wenn man Pech hat, liegt der Mittelpunkt im Wasser oder im Areal des Bundesnachrichtendienstes, und man kann gar keinen Stein aufstellen.
Solche Versuche, den Mittelpunkt objektiv geometrisch zu definieren, sind kindisch und liefern nichts von Bedeutung.
Schauen wir uns lieber einzelne Punkte von Bedeutung an.
Schreibe den ersten Kommentar